Years and Years
Welche Konsequenzen hat unser heutiges Handeln? Wie sieht die Welt in einem Jahr aus? In fünf Jahren? In einem Jahrzehnt? Wie wäre eine Welt, in welcher der Intelligenzquotient darüber entscheidet, wer wählen gehen darf? In Sachen düstere Zukunftsszenarien hat die von BBC One und HBO ko-produzierte Mini-Serie Years and Years dem vielgepriesenen Black Mirror den Rang abgelaufen, und das mit nur sechs Folgen. Geschildert wird das Schicksal einer britischen Familie in den Jahren 2019 bis 2034, und die Handlung entwickelt sich sehr genau aus dem Fortschreiten unserer aufgebrachten und nervösen Gegenwart. Seit Oktober 2020 kommen deutsche Zuschauer in den Genuss der visionären Serie von Russell T Davies (Doctor Who, Queer as Folk) auf Blu-ray und DVD.
Manchester im Jahr 2019: Die Lyons sind eine britische Großfamilie. Großmutter Muriel (Anne Reid, Schneemann) ist das verbindende Glied ihrer vier erwachsenen Kinder. Da ist Finanzberater Stephen (Rory Kinnear, The Imagination Game) mit seiner Ehefrau, Buchhalterin Celeste (T’Nia Miller, Hatton Garden), der sich um die Zukunft der gemeinsamen Kinder sorgt. Daniel (Russell Tovey, Looking) ist dabei, seinen Lebensgefährten Ralph (Dino Fetscher, Die Unfassbaren 2) zu heiraten. Die bisexuelle Rollstuhlfahrerin Rosie (Ruth Madeley, The Accident) verliebt sich wieder einmal unsterblich in einen Mann. Die Aktivistin Edith (Jessica Hynes, Shaun of the Dead) hat sich dagegen schon seit Jahren nicht mehr bei der Familie blicken lassen.
Ein Ereignis während eines schicksalhaften Familientreffens im Jahr 2019 sorgt dafür, dass die Schicksale der Familienmitglieder über die nächsten 15 Jahren eng miteinander verknüpft sein werden. Denn noch ahnt niemand, welche Rolle die Familie in der Weltgeschichte, die gerade ihren Lauf nimmt, spielen wird: Nach dem Brexit zieht sich das Vereinigte Königreich weiter von Europa zurück, Angela Merkel stirbt, während die USA sich unter Trump isoliert und Chinas Weltmacht wächst. Die Ukraine wird zum russischen Vorposten umfunktioniert und explodiert als Quell eines Flüchtlingsstroms.
Derweilt strebt die Parlamentarierin Vivienne Rock (Emma Thompson, Saving Mr. Banks) nach Macht. Sie ist eine omnipräsente Politikerin, die einem Alptraum gleichkommt: Rebellin, Entertainerin und vor allem Populistin. Jede Krise nutzt sie ganz gezielt, um die Wählerschaft zu ihren Gunsten zu manipulieren …
Eine neue Weltordnung
Originaltitel | Years and Years |
Jahr | 2019 |
Land | Großbritannien |
Episoden | 6 in 1 Staffel |
Genre | Drama |
Cast | Daniel Lyons: Russell Tovey Rosie Lyons: Ruth Madeley Edith Lyons: Jessica Hynes Stephen Lyons: Rory Kinnear Anne Reid: Muriel Deacon Celeste Bisme-Lyons: T’Nia Miller Vivienne Rock: Emma Thompson Bethany Bisme-Lyons: Lydia West Ruby Bisme-Lyons: Jade Alleyne Viktor Goraya: Maxim Baldry |
Veröffentlichung: 8. Oktober 2020 |
Serienschöpfer Russell T Davies beschäftigt sich vornehmlich mit gesellschaftspolitischen Fragen. Das Drehbuch plante er eigenen Aussagen zufolge mehr als 20 Jahre und 2019 erblickte Years and Years endlich auf BBC One das Licht der Welt. Die Serie entstand zu einem Zeitraum, in dem der Brexit noch längst nicht beschlossen war. Und doch erscheinen die weltpolitischen Ereignisse so glaubhaft, als seien sie eine sich selbsterfüllende Prophezeihung. Dazu gehört vor allem das unter Trump abgeschottete Amerika und Chinas Vormachtstellung. Davies schlägt inhaltliche Bahnen ein, die wir uns nur zu gut vorstellen können, und malt aus, wie die Entwicklung unter dieser neuen Weltordnung von statten gehen könnte. Zehn Jahre zuvor wären diese Ereignisse noch einem Fiebertraum gleich gekommen ‒ heute verängstigen die greifbar gewordenen Umstände.
Zukunftsmusik
Durch die vier unterschiedlichen Lyons-Kinder und deren Familien hängen die Zuschauer nicht an einer ausgewählten Geschichte fest. Im Gegenteil, da auch die Enkelkinder teilweise ganz anders als ihre Eltern ticken oder einen anderen Zugang zu technologischen Errungenschaften besitzen, gibt es einen 360 Grad-Umblick in Davies’ düstere Zukunft. Eine Zukunft, in der wir nicht nur neuen Flüchtlingsströmen begegnen, sondern auch zunehmend digitalisiert und automatisiert unterwegs sind. So wird Rosie als Küchenkraft einer Schulkantine damit konfrontiert, dass Fertigessen inzwischen so hochentwickelt ist, dass es sich mit dem Ziehen einer simplen Lasche selbsterhitzt. Wer benötigt da noch eine Köchin? Es sind die vielen Facetten des Lebens, kleine wie große, die Years and Years in sich aufnimmt. Die Geschwister bewegen sich in unterschiedlichen Sozialmillieus und Lebensstandards. Dadurch werden wir zum Beobachter eines ganzen Systems, nicht einer einzigen Nische, in die ein Autor uns zwingt.
Für mehr Diversität
Davies erschuf mit Queer as Folk und deren amerikanischen Ableger die erste homosexuell geprägte TV-Serie der Welt. Insofern verwundert es wenig, dass Davies, der selbst mit einem Mann verheiratet ist, Wert darauf legt, seine Charaktere weitgehend divers sein zu lassen. Diese Eigenschaft zieht sich wie ein roter Faden durch das Figurenensemble von Years and Years. Verschiedene Ethnizitäten, gleichtgeschlechtliche Beziehungen oder Flüchtlinge ‒ es geht nie um die Abbildung einer Quote. Davies erzählt Geschichten über Menschen, ein wichtiger Punkt. Deswegen ist es auch weniger von Bedeutung, dass Daniel und Ralph ein Paar sind, sondern viel spannender, dass die beiden Ehemänner in spe völlig unterschiedliche politische Ansichten verfolgen. Die Grundlage einer toxischen Beziehung, denn irgendwann ist die Schwelle erreicht, an der es nicht mehr nur unter der Oberfläche brodelt.
Transsexuell war gestern ‒ heute sind wir transhuman
Besonders spannend, da eine völlig neuartige Form der Diversität: Transhumanität. Als Bethany (Lydia West, The Cycle) ihren Eltern Stephen und Celeste eröffnet, sie fühle sich “trans”, reagieren diese völlig gelassen. Es sei doch mittlerweile nichts mehr dabei, sich im falschen Körper zu fühlen. Doch Bethany geht es um etwas ganz anderes: Sie fühlt sich unwohl in ihrem irdischen Körper und möchte als Datensatz unsterblich sein. Möglichkeiten, die Zuschauer ins Grübeln bringen: Science-Fiction oder tatsächlich mittelfristig unsere Realität? Years and Years nutzt seinen technologischen Hintergrund auf eine völlig natürliche Weise. Was in Black Mirror immer irgendwo das exotische Element einer jeden Folge bleibt, wird hier stets gelebt und entwickelt sich vor allem weiter. Davies, der mit Doctor Who und Torchwood Erfahrung im Bereich Science-Fiction sammelte, führt die Zuschauer schrittweise an Veränderungen im Alltag heran. Das wirkt an einigen Stellen zuviel des Guten, schindet in manchen Szenen dafür umso mehr Eindruck. Telefonieren ohne technisches Gerät? Alles eine Frage der Perspektive.
Instabile politische Zukunft mit ausufernder technologischer Entwicklung
Ein paralleler Handlungsstrang begleitet das Familiengeschehen durch alle Folgen: Die Geschichte um die charismatische Vivienne Rock. Erst Medienstar und dann bissige Politikerin mit Hang zu einem zur Schau gestellten Desinteresse an Zusammenhängen. Eine Persiflage auf die Trump-Politik, in der Kontexte keine Bedeutung haben und der Lauteste mit den meisten Followern Recht hat. Anders als Trump agiert Vivienne Rock aber mit Schlagfertigkeit und deutlich bedachter als ihr realer Kollege. Der zusätzliche Verzichte auf vulgäre Ausdrucksweise kommt bei der Wählerschaft an und mit leeren Worten lullt die machthungrige Politikerin das Volk ein. Die Lyons verfolgen diese Entwicklungen über alle mobilen Geräte, vor allem aber der Fernseher ist es, der die Familie eint. Trotz ihrer Wichtigkeit für die Rahmenhandlung bleibt Rock zumindest für zwei Drittel der Serie eine Nebenfigur, die das Gesicht eines porösen Systems darstellt.
Progressive Erzählweise mit charaktergetriebenen Entscheidungen
Sechs Episoden à 60 Minuten sind nicht viel Spielzeit, reichen aber vollkommen aus, um die inhaltlichen 15 Jahre voll abzubilden. Davies bewegt sich mit einer unglaublichen Schnelligkeit durch das Drehbuch, nimmt sich aber an den entscheidenden Stellen genug Zeit, um alle Entscheidungen nachvollziehbar und transparent zu gestalten. Zwischen Folge 1 und Folge 2 mögen zwar sechs Monate liegen, doch wir verinnerlichen und verarbeiten sehr schnell, welche Entwicklung die Charaktere in dieser Zeit durchlaufen sind. Es kommt selten vor, dass die zeitlichen Sprünge zu hoch ausfallen. Brillant ist auch der Cast, für den ein ganz besonderes Gespür an den Tag gelegt wurde. Die Familie funktioniert in ihrer Chemie äußerst natürlich. Ob Spannungen oder Harmonie, es entsteht nie der Eindruck, als seien dies einfach nur Schauspieler, die eine Familie bilden sollen. Russell Tovey sorgt für viel Nahbarkeit und verkörpert seine idealistische Figur Daniel so, dass wir gar nicht darüber nachdenken müssen, ob er korrekt handelt. Er tut es einfach. Ruth Madeley und Jessica Hynes hat man zu Beginn kaum auf dem Schirm, doch ihre Präsenz wird immer stärker und sie gewinnen im Laufe der Zeit an viel Wärme. Lydia West ist erst noch für eine völlige surreale Komponente verantwortlich, könnte aber der Liebling einer ganzen Generation werden. Und Emma Thompson spielt ihre Vivienne Rock so überzeugend, dass sie ganz viele Emotionen hochkochen lässt.
Fazit
Nach Years and Years kann niemand mehr sagen, er sei nicht gewarnt worden. Nichts, was die Serie zeigt, fühlt sich nach ferner Zukunft an. Es ist unglaublich, dass sechs Folgen ausreichen, um unter die Haut zu gehen und Ehrfurcht vor der Zukunft aufkommen lassen. Noch Tage nach dem Ansehen verfolgen einen Bilder. Viele Nuancen befinden sich bereits heute in unserem Alltag und sind vielleicht noch nicht so ausgeprägt, werden aber im Stillen wachsen und gedeihen. Drehbuch, Regie, Charaktere ‒ Davies hat ein Monster erschaffen, das eine breite Aufmerksamkeit verdient und demonstriert, dass Serien hinsichtlich ihren erzählerischen Entwicklungsmöglichkeiten dem Medium Film weit überlegen sind.
© STUDIOCANAL
Seit 8. Oktober 2020 im Handel erhältlich:
Ich musste die Serie erst einmal ein paar Tage sacken lassen, aber jetzt muss ich wirklich sagen: Years and Years ist wohl eine der besten und intensivsten Serien der letzten Jahre. Ich habe noch lange über das Gezeigte nachgedacht und es beschäftigt mich noch immer, weil die Ereignisse nicht unrealistisch wirken. Natürlich, eine zweite Amtszeit Trumps ist uns erspart geblieben und mit der Corona-Pandemie sieht es auf der Welt gerade sowieso ganz anders aus, als man das vor wenigen Jahren erahnt hätte, aber ich habe mir nie gedacht:”Ach, das würde doch nie passieren.” Im Gegenteil, die Ereignisse scheinen geradezu schmerzhaft realistisch (zumal so einiges ja durchaus schon passiert, nur scheint das eben immer ‘fern’ aus der eigenen Perspektive).
Sehr in Erinnerung geblieben sind mir ja die “Deepfakes”. Wir kennen Fake News, aber das wäre noch einmal eine ganz neue Stufe, die die Grenzen von Wahrheit und Lüge noch viel stärker verschwimmen lassen würde.
Im Vorfeld hatte ich ja befürchtet, mir würde die Handlung zu schnell gehen, denn 15 Jahre in gerade mal sechs Episoden mit nur je etwa einer Stunde Laufzeit? Aber tatsächlich finde ich es gut, dass die Handlung so schnell voranschreitet und obwohl man ja nur mehr Ausschnitte der Familienmitglieder sieht, habe ich mich ihnen schnell nah gefühlt. Auch wird ja Vivianne Rook nicht von heute auf morgen so einflussreich und es wird finde ich gut gezeigt, wie geschickt sie die Menschen auf ihre Seite zieht. Man hat durch sie schon gesehen, wie gefährlich Populismus ist und dass jeder in unserer Gesellschaft die Verantwortung hat, dass Menschen wie sie nicht an die Macht kommen.
Das Ende ist ja recht offen und ich bin hier etwas zwiegespalten. Auf der einen Seite würde ich gerne mehr von den Lyons sehen und wissen, ob Edith wirklich “überlebt”, andererseits würde das glaube ich den Impact der Serie und des Finales mindern. Zumal Edith ja selbst eher zu glauben schien, dass es nicht möglich ist, das Bewusstsein wirklich zu digitalisieren, wenn ich ihre letzten Worte richtig interpretiere.