Wir Kinder vom Bahnhof Zoo

Kaum ein Buch hat die Gesellschaft so stark aufgewühlt wie 1978 die Autobiografie Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, erzählt nach dem wahren Leben von Christiane Felscherinow. Das bis heute erfolgreichste deutsche Sachbuch der Nachkriegszeit beschreibt schonungslos die Situation drogenabhängiger Jugendlicher und wurde nach seiner Veröffentlichung in zahlreichen Schulen als Pflichtlektüre gelesen. 1981 erfolgte unter dem Titel “Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo” die erste erfolgreiche Verfilmung. Passend zum 40. Geburtstag dieser erschienen am 19. Februar 2021 die acht Episoden von Wir Kinder am Bahnhof Zoo. Eine neue Umsetzung des brisanten Stoffes um die Clique von Christiane und ihren Freunden, auf Amazon Prime Video.

 

Sechs Jugendliche lernen sich im Berlin der 70er Jahre kennen und werden zu einer Clique, die sich gegenseitig den Halt gibt, den sie in ihrem Umfeld und den Erwachsenen nicht bekommen. Doch die Drogen- und Partyszene ist kein Spaß, sondern ernst: was als ein paar Drogen zum Feiern beginnt, wird zu einer gefährlichen Sucht, welche die Jugendlichen in die Prostitution treibt und droht, sie unwiderruflich in den Abgrund zu reißen …

Das Zusammenfinden sechs verschiedener Charaktere

Originaltitel Wir Kinder vom Bahnhof Zoo
Jahr 2021
Land Deutschland
Episoden 8
Genre Drama
Cast Christiane: Jana McKinnon
Stella: Lena Urzendowsky
Benno: Michelangelo Fortuzzi
Babsi: Lea Drinda
Axel: Jeremias Meyer
Michi: Bruno Alexander
Veröffentlichung: 19. Februar 2021

Die Protagonisten stammen aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen. Christiane (Jana McKinnon, Beautiful Girl) selbst leidet darunter, dass sich ihre Eltern nach einem weiteren aggressiven Gewaltausbruch des Vaters trennen und sie sucht nach Anerkennung. Stella (Lena Urzendowsky, Kokon) stammt ungleich aus der auf den ersten Blick unschönsten Situation: Ihre Mutter ist alkoholkrank, weshalb Stella oft die Verantwortung für ihre beiden jüngeren Geschwister übernehmen muss. In der Kneipe ihrer Mutter wird Stella von einem Kunden vergewaltigt, ihre Mutter versagt aber selbst dann vollkommen darin, ihrer Tochter danach beizustehen. Babsi (Lea Drinda, Die letzten Kinder im Paradies) wächst bei ihrer Großmutter auf und kommt im Gegensatz zu ihren beiden Freundinnen aus reichem Hause, fühlt sich aber eingeengt und strebt nach Freiheit. Benno (Michelangelo Fortuzzi, Druck) ist hingegen ein tierlieber Junge, der sich von seinem Vater nicht verstanden fühlt und oft mit Michi (Bruno Alexander, Die Pfefferkörner), über dessen Familienverhältnisse nicht wirklich etwas bekannt ist, abhängt. Axel (Jeremias Meyer, Die Vampirschwestern) fällt dadurch, dass er seine Ausbildung sehr ernst nimmt und sogar eine eigene Wohnung hat, etwas aus dem Raster, schließlich steht er somit schon auf eigenen Beinen. Seine Wohnung wird zum Rückzugsort der Clique. Dass sich diese doch so gänzlich unterschiedlichen Jugendlichen treffen und zu einer Clique werden, wird für sie jedoch sowohl Fluch als auch Segen, denn während die Gruppe Halt gibt, macht es der herrschende Drogenkonsum der einzelnen Person aber auch umso schwerer, clean zu werden und es auch zu bleiben.

Eine kontinuierliche Abwärtsspirale?

Es fängt harmlos an: Die Jugendlichen feiern zusammen im angesagten Club “Sound”, es entsteht ein Zusammenhalt innerhalb der Gruppe und hin und wieder nehmen sie schwächere Drogen zu sich. Wie für Teenager üblich, bleiben auch Themen wie die Liebe und die Sexualität nicht aus. So verliebt sich Axel in Christiane, die jedoch Gefühle für Benno entwickelt, die dieser erwidert – zum Missfallen von Michi, der aber nie zugeben würde, dass er in seinen Kumpel verliebt ist. Doch aus den schwachen Drogen wird irgendwann Heroin, aus dem gelegentlichen Konsum eine gefährliche Sucht. Eine Sucht, die auch Christiane in die Prostitution zwingt, obwohl Benno, der selbst schon länger auf den Strich geht, dies verhindern möchte. Stella verlässt sich durch die Verantwortungslosigkeit ihrer Mutter auf den Zoohändler Günther (Bernd Hölscher, Der Hauptmann), der sie für sexuelle Gefälligkeiten bei sich wohnen lässt und mit Drogen versorgt. Tatsächlich bewegen sich die Jugendlichen aber nicht kontinuierlich auf den Abgrund zu, sondern sie erleben ein Auf und Ab, bei dem es durchaus oft so scheint, als würde sich ihre Situation verbessern – nur um dann wieder zum Status Quo zurückzukehren oder sogar noch schlimmer in den Teufelskreis aus Drogen und Prostitution gezogen zu werden. Diese Entwicklung, die insbesondere in der zweiten Hälfte der Serie immer groteskere Ausmaße annimmt, sorgt für einige Szenen, die als Zuschauer*in unangenehm wie abstoßend sind.

David Bowie, schrille Klamotten – das Lebensgefühl der 70er

Die Handlung von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo wurde nicht in die Moderne verlegt, sondern spielt wie das Buch und die Erstverfilmung in den 70er-Jahren. Das wird auch an einem thematisierten David Bowie-Konzert (bei dem David Bowie von Alexander Scheer verkörpert wird) in Berlin deutlich. Der Kontakt per Brief sowie das umständliche Suchen der Clique untereinander im verlassenen Bahnhof zeugen von einer Zeit vor Smartphone und Social Media. Obwohl die Serie zeitlich also viele Jahrzehnte vor unserer Zeit spielt, wirkt sie aber keinesfalls altbacken, sondern vermittelt eine zeitlose, moderne Atmosphäre, die alle Zuschauer*innen ansprechen kann. Einige Szenen wirken paranormal. So redet Babsi mit dem Geist ihres toten Vaters und Benno glaubt, er könne mit Tieren sprechen. Wirklich thematisiert wird dieses fantasievolle Element zwar nicht, es wirkt aber auch nicht wie ein Fremdkörper, sondern erscheint im Kontext der Figuren als plausibel. Auch einige Traumsequenzen sind zu sehen, unter anderem auch dann, wenn die Charaktere im Drogenrausch sind.

Nicht nur Christianes Geschichte

Im Vergleich zur Erstverfilmung des Regisseurs Uli Edel (Letzte Ausfahrt Brooklyn) präsentiert sich die Serie deutlich bildgewaltiger, funkelnder und bunter. Auch ist der Schockeffekt durch das höhere Alter der Darsteller*innen (Nadja Brunckhorst, die Christiane in der 1981-Verfilmung darstellt, war damals wie die echte Christiane F. erst 13 Jahre alt, Jana McKinnon ist hingegen bereits über 20) gewiss etwas weniger groß, obwohl es nicht minder erschreckende Szenen gibt. Etwa wenn Christiane ihren Körper für wenige Gramm Heroin verkauft. Die Serie zeichnet kein rein tristes Bild, sondern auch den Spaß, die Partys und die Freude am ausufernden (aber auch gefährlichen) Leben der Berliner Szene, wie sie die Clique selbst empfindet. Drehbuchautorin Annette Hess (Ku’damm 56) entschied sich bei der Adaption als Serie zudem dafür, den erzählerischen Fokus nicht alleine auf Christiane zu setzen, sondern stattdessen die Mitglieder ihrer Clique gleichermaßen zu beleuchten. Dies gelingt durchaus bis zu einem gewissen Grad, sodass die Charaktere definitiv die Stärke der Serie sind und dafür sorgen, dass man stets wissen möchte, wie es mit ihnen weitergeht. Leider bleiben Charaktere wie Michi bis zum Schluss im Vergleich aber doch zu blass und ein paar mehr Monologe hätten den Charakteren noch mehr Tiefe verleihen können. Insgesamt versucht Wir Kinder vom Bahnhof Zoo als Serie nicht, eine verlängerte Fassung von Edels Film zu sein oder das Buch originalgetreu zu adaptieren (einige Charaktere, wie der immer wieder auftauchende DJ, sind sogar komplett fiktional), sondern die Zuschauer*innen zu fesseln, zu involvieren und doch in manchen Szenen dann wieder auf unangenehme Weise daran zu erinnern, wie die Jugendlichen als Teil der Drogenszene in ihr Verderben rennen.

Starke schauspielerische Leistungen des jungen Casts

Für das Casting der Hauptcharaktere war es ein Ziel, eher unbekannten Jungdarsteller*innen eine Chance zu geben, weshalb der Cast tatsächlich schauspielerisch noch eher unbekannt oder unerfahren ist (mit Ausnahme von Lena Urzendowsky, die neben einigen Nebenrollen in der zweiten Staffel von How To Sell Drugs Online (Fast) bereits eine Hauptrolle inne hat). Die schauspielerische Leistung der Beteiligten steht jedoch außer Frage, insbesondere die Newcomerin Lea Drinda beeindruckt in ihrer Rolle als Babsi. Die Dreharbeiten für das acht Episoden umfassende Serien-Epos fanden in Berlin und Prag statt. In Prag wurde auch das “Sound” (die tatsächliche Berliner Disco wurde in den 80er Jahren geschlossen) nachgebaut, ebenso wie das Innere des Bahnhof Zoos mit stilechten Postern und Werbetafeln. Insofern ist es kein Wunder, dass die Kosten für die Produktion entsprechend hoch bemessen waren und ohne die Kooperation mit Amazon wäre die achtteilige Serie wohl nicht verwirklicht worden.

Fazit

Wir Kinder vom Bahnhof Zoo ist nicht rundum gelungen, sondern hat hier und da einige Schwächen, wenn es um die gleichberechtigte Ausarbeitung der Charaktere oder den Tiefgang geht. Aber die Serie schafft es, die spannende (wie auch teils schockierende) Entwicklung einer Gruppe Berliner Jugendlicher zu Hochzeiten der Drogenszene zu zeigen. Die Charaktere sind dabei die große Stärke und sind größten Teils so ausgearbeitet, dass man von ihren Schicksalen berührt wird. Oft kann man deshalb einfach nur teils hilflos zuschauen, wie sie sich selbst zerstören, hofft aber währenddessen, dass sie die Kurve kriegen. In jedem Falle ist Wir Kinder vom Bahnhof Zoo keine Serie, die man anschaut und dann vergisst, sondern die nachhallt und zum Nachdenken anregt.

Zweite Meinung:

Wir Kinder vom Bahnhof Zoo muss(te) in den sozialen Medien viel Prügel einstecken: Die Schauspieler zu alt, der Look zu clean, damals war doch alles anders.  Es ist wichtig, die Serie als das zu betrachten, was sie ist: Eine Serie über den Drogenkonsum von Teenagern und dessen Folgen, nur eben für eine junge Zielgruppe von heute, die mit Hochglanzproduktionen aufwächst und sich vielen Gründen den Film gar nicht erst ansehen würde, geschweigen denn sich mit den Jugendlichen identifizieren könnte. Aus dem Grund ist es eine clevere Idee, den Stoff in eine zeitlose Geschichte zu verweben, die Elemente der 80er, 90er und 2000er zusammenführt und sich modern anfühlt, ohne aber die Kommunikation digital zu gestalten (Stichwort Smartphones). Hat man sich auf all diese Spielregeln einmal eingelassen, bietet die Serie nicht nur hohe Schauwerte, sondern auch emotionalen Stoff und gut geschriebene Charaktere. Interessanterweise ist es gar nicht einmal Christiane, sondern eher Stella oder Babsi, welche das krassere Schicksal mitbringen. Das Figurenensemble wird sinnvoll genutzt um all diese Schicksale stimmungsvoll zu erzählen. Die ständigen Vergleiche zu einem Film, der unter Umständen entstand, die heute gar nicht mehr realisierbar wären, sind überflüssig.

© Amazon Prime Video

Ayla

Ayla ist Schülerin und beschäftigt sich hobbymäßig mit allen möglichen Medien, ohne dabei Beschränkungen zu kennen. Dennoch ist sie vor allem ein Serien- & Game-Junkie und liebt besonders actionreiche und dramatische Inhalte, wobei sie gleichzeitig für viele kindliche Themen zu haben ist, weshalb sie weiterhin großer Disney-Fan ist. Abseits ihrer Leidenschaft des Sammelns ihrer Lieblingsmedien schreibt Ayla gerne selbst Geschichten oder zeichnet Bilder, um sich so zu entspannen.

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