Doctor Strange in the Multiverse of Madness

In sozialen Medien liest man häufiger von “Doctor Strange 2”, was den Eindruck erwecken könnte, als sei Doctor Strange in the Multiverse of Madness nicht mehr als einfach das zweite lustige Solo-Abenteuer von Doctor Strange, der in Phase 4 des Marvel Cinematic Universe als Ankerpunkt dient. Tatsächlich kulminieren hierin verschiedene Handlungsstränge, woraus ein ähnlich großes Highlight resultiert wie Captain America: Civil War seinerzeit in Phase 3. Als der Film am 4. Mai 2022 in die Kinos kam, werden nicht wenige Zuschauer gestaunt haben, denn es handelt sich um den ersten Abstecher ins Horror-Genre, für das kein geringerer als Mastermind Sam Raimi (Tanz der Teufel) gerade steht. So oder so: Nach Spider-Man: No Way Home sind die Erwartungen in absurde Höhen geschnellt, nicht zuletzt, da man bei Marvel nicht die Füße still halten konnte und eine der größten Sensationen bereits vorab in den Trailer packte. Glücklicherweise führt dieser auf eine falsche Spur.

Doctor Strange (Benedict Cumberbatch, Sherlock) wird von düsteren Träumen verfolgt. Eines Tages trifft er auf die durch Universen springende America Chevaz (Xochitl Gomez, Der Babysitter-Club) und erfährt, dass es sich bei diesen Träumen nicht um willkürliche Visionen, sondern um Einblicke in andere Universen handelt. Durch diese Universen wütet ein unbekannter Feind, der es auf America abgesehen hat. Auf der Suche nach Hilfe wendet Doctor Strange sich an seine Avengers-Kollegin Wanda Maximoff (Elisabeth Olsen, Oldboy), die allerdings selbst noch traumatisiert von den jüngsten Ereignissen ist …

Sam Raimis Stempel

Ursprünglich sollte Scott Derrickson (The Black Phone) noch einmal Regie führen, nachdem er bereits Doctor Strange inszenierte. Allerdings kam es zu kreativen Differenzen zwischen Regisseur und Studio, was sich im Endeffekt wohl als glückliche Fügung erweist. Denn mit der Verpflichtung Sam Raimis gelang Marvel ein echter Clou. Nicht nur, dass dieser nach drei Spider-Man-Filmen (2002–2007, häufig auch einfach die “Raimi-Trilogie”) bereits sein fabelhaftes Gespür für Comic-Stoff unter Beweis gestellt hat und den modernen Superheldenfilm mitbegründete, auch gilt er als Legende im Horror-Bereich. Seine Tanz der Teufel-Trilogie gehört zu den beliebtesten Reihen des Genres. Nach Iron Man 3 von Shane Black und Eternals von Chloé Zhao ist dies der dritte Film des MCUs, der die Handschrift des ausführenden Regisseurs deutlich tragen darf. Doch dazu später mehr.

Kein Weg führt um WandaVision vorbei

Originaltitel Doctor Strange in the Multiverse of Madness
Jahr 2022
Land USA
Genre Action, Horror
Regie Sam Raimi
Cast Doctor Stephen Strange: Benedict Cumberbatch
Wanda Maximoff: Elisabeth Olsen
Wong: Benedict Wong
America Chavez: Xochitl Gomez
Karl Mordo: Chiwetel Ejiofor
Christine Palmer: Rachel McAdams
Laufzeit 126 Minuten
FSK
Veröffentlichung: 22. Juni 2022 (Disney+), 28. Juli 2022 (Disc)

Nach dem Sieg über Thanos in Avengers: Endgame arbeitet das MCU bereits länger auf das nächste große Highlight hin. Phase 4 dient vor allem dazu, alte Figuren zu verabschieden und neue einzuführen. Gleichzeitig wird mit verschiedenen Handlungssträngen jongliert, die in alle Richtungen expandieren (irdisch, kosmisch, magisch). Was über allem schwebt, ist aber der Begriff des Multiversums, welches in Loki erstmals vorgestellt wird und in What If…? und Spider-Man: No Way Home im kleinen Rahmen bereits verprobt wurde. Essenziell für Doctor Strange in the Multiverse of Madness sind diese Produktionen jeweils nicht (gerade die Bezüge zu No Way Home belaufen sich auf ein einziges Namedropping, was geradezu lachhaft eingebaut wirkt angesichts der Tatsache, dass Doctor Strange in diesem Film eine größere Rolle spielt). Konnektivität ist eine tolle Sache, wenn sie denn natürlich geschieht und nicht verkrampft wirkt. Zum Glück zeigt dieser Film aber auch, wie eine sinnvolle Verknüpfung aussehen kann.

Was sich lange andeutete, wird jetzt zum bitteren Ernst: Die Disney+-Serien sind kein schmückendes Beiwerk, sondern leiten Filme ein und auch mal aus. Die Entwicklungen aus WandaVision besitzen nämlich eine Überpräsenz und wer diese nicht kennt, ist deutlich im Nachteil. Wer Wanda zuletzt in Avengers: Endgame gesehen hat, wird sie jetzt nicht mehr wiedererkennen. Wie keine andere Figur des MCUs hat sie einen enormen Wandel hinter sich. Nicht nur, dass ganze Erzählstränge ohne Kenntnisse der Serie an Wirkung verlieren, auch Wandas Psychologisierung fußt vollständig darauf. Das mag bitter für diejenigen sein, welche die Serieneinträge vernachlässigt haben, ist für die Handlung aber ein großer Gewinn. Denn dadurch muss umso weniger Zeit mit Erklärungen verbracht werden und die Figuren erlangen endlich etwas, das man früher häufig vermisste: Tiefgang.

Viel Madness, wenig Multiverse

Sam Raimis Einfluss als Regisseur spiegelt sich vor allem im visuellen Bereich wieder. Er war noch nie der Regisseur, der seinen Horror aus einfallslosen Jump-Scares und schnellen Schnitten zog, sondern mit abstrakten Ideen und surrealen Motiven (selbst in Spider-Man 2 findet sich eine Skelett-Szene wieder, die nicht zu dem passt, was man von Marvel kennt). Bei einer FSK 12-Freigabe darf man aber trotzdem erstaunt darüber sein, dass eben jener Spielrahmen bis an die Grenzen ausgereizt wurde. Wann immer er seine visuellen Karten ausspielt, ist Staunen angesagt. In einer Szene gibt es sogar eine Hommage an The Ring (oder wenn man möchte, dann auch das japanische Original Ringu), was den wohl überraschendsten Effekt des ganzen Films ausmacht. Auch Carrie – Satans jüngste Tocher wird Tribut gezollt. Besessenheit, Monster, Dämonen, Splatter-Andeutungen und sogar Zombie-Bezüge. Es ist, als liefere ihm das Drehbuch von Michael Waldron (Loki) alles, was Raimi als eine Art Gimmick-Showcase umsetzt. Natürlich mit angezogener Handbremse, gruseln wird sich hierin kaum jemand. Aber gerade wenn Marvel Raimi im letzten Drittel von der Leine lässt, geschehen Dinge, die man in dieser Form im gesamten Franchise noch nicht gesehen hat. Das fühlt sich gut an und sorgt dafür, dass sich der Film von der oftmals negativ konnotierten Marvel-Formel entfernt. Doctor Strange in the Multiverse of Madness ist ebenso ein Marvel-Film, wie es offensichtlich ein Raimi-Film ist. Der Sprung durch das Multiversum ist visuell ähnlich herausragend wie die an Inception erinnernden Welten aus Doctor Strange. Im Eilverfahren geht es wie in Spider-Man: A New Universe durch abstrakte Welten, von denen jede anders gestaltet ist und andeutet, dass jedes Universum nach eigenen Regeln funktioniert. Der Blick in fremde Universen bringt zudem interessante und kreative Ideen mit sich. Etwa eine Memory Lane, eine Art Schaufenster, die Erinnerungen als Film reproduziert. Außerdem erlaubt das Konzept des Multiversums es, auf eigene Versionen von sich selbst zu stoßen (natürlich geschieht dies auch hier). Freund oder Feind? Nicht in jedem Fall ist das direkt klar. Schade bleibt, dass America Chevaz davon spricht, 72 Universen erlebt zu haben, wir allerdings nur einen Bruchteil dessen erleben dürfen. Der große eigenständige Multiversum-Plot, der seinen Schatten auf kommende Filme wirft, bleibt aus und das Gezeigte beläuft sich auf Spielereien.

Eine kurze Runde Spoiler: Cameos

Die Szene, für die das Fan-Herz am lautesten schlagen wird, ist natürlich die Einführung der Illuminati. Anders als die Comics, in denen die Illuminati aus Namor (bislang nicht im MCU), Tony Stark (wir kennen sein Schicksal), Richard Reeds, Black Bolt, Charles Xavier und Doctor Strange bestehen, verfolgt das MCU eigene Ziele. Der Superheldenrat setzt sich auf seine eigene Weise zusammen und präsentiert eine Besetzung, die beeindruckt. Die Einführung von Charles Xavier und damit Patrick Stewart in seiner Paraderolle ist natürlich ein großes Ass im Ärmel und erstmals möglich, seitdem Disney 2017 Fox übernahm. Wer bei Patrick Stewards Präsenz keine Gänsehaut bekommt, dem ist auch nicht zu helfen. Auch die anderen alternativen Illuminati-Mitglieder sind mehr als nur einen Blick wert. Anson Mount darf seine Rolle als Black Bolt aus dem in Ungnade gefallenen und in Vergessenheit geratenen TV-Projekt Inhumans wiederholen. John Krasinski verkörpert die Rolle des Mr. Fantastic. Lashana Lynch tritt als Maria Rambeau auf, von der wir wissen, dass sie in der uns bekannten Zeitlinie mittlerweile verstorben ist. In diesem Universum hat sie die Rolle von Captain Marvel eingenommen. Und dann ist da noch Fan-Liebling Captain Carter (Hayley Atwell), die nach What If…? erstmals in menschlicher Form in Erscheinung treten darf. So gelungen dieser Auftritt ist, so schnell sind die Illuminati wieder Geschichte. Schade, schade, schade. Doch das Multiversum kurbelt die Fantasie an und zeigt uns, welche abgefahrenen Möglichkeiten nun zulässig sind. Ärgerlich ist es aber, wer da alles ins Narrativ gedrängt wird, ohne eine entscheidende Rolle einzunehmen. Größere Hoffnung darf auf die Magierin Clea (Charlize Theron) gesetzt werden, die viele schon in WandaVision vermuteten und die in der Post-Credit-Scene einen unerwarteten Einstieg vollführt.

Intime und berührende Ebenen öffnen sich

Obwohl so viel passiert, gelingt es allen Darsteller:innen, inmitten des Chaos wertvolle Dialogzeilen zu hinterlassen, die emotional oftmals mehr packen, als man es in einem Actionfilm erwarten würde. Vor allem darf sich Stephen Strange endlich wieder stärker entwickeln, der zuletzt ziemlich auf der Stelle trat. Seine ungesunde Mischung aus Arroganz, Größenwahn, Wissen und Überlegenheit sind einfach einmalig und eine filmübergreifende Konstante, was nicht bedeutet, dass es nicht auch neue Züge an ihm zu entdecken gibt. Wenn der mächtigste Zauberer der Welt an seiner Einsamkeit zerbricht, sind das emotionale Momente, die nicht kaltlassen. Wie in What If…? ist auch hier Christine Palmer (Rachel McAdams) der Schlüssel dafür. Das vielleicht größte Spotlight wirft sein Licht auf Xochitl Gomez in der Rolle der America. Sie ist eine große Entdeckung und ein talentierter Nachwuchs-Star, der nach diesem Film hoffentlich groß herauskommen wird. Besondere Beachtung verdient dieses Mal vor allem der Bösewicht, welcher nicht einfach nur böse ist, damit der Protagonist etwas zu tun bekommt, sondern glaubwürdig fehlgeleitet ist. Vielleicht sogar als ein zukünftiges Musterbeispiel des Franchise, weil die Agenda gleichermaßen brutal wie intim ausfällt.

Verspieltes Potenzial zum Fingerlecken

Kann ein Film mit einer solchen Bürde, das Multiversum zum Leben zu erwecken, wirklich aus den Vollen schöpfen? Die Antwort ist in vielen Szenen: leider nein. Vor allem hinsichtlich der Figuren funktioniert vieles nicht. Das beste Beispiel ist America, die immer wieder als Szenendiebin in Erscheinung tritt, sich allerdings nur wenig entwickelt. Das Band, das sich zwischen Strange und ihr entsteht, bleibt unterentwickelt und beläuft sich auf ein paar wenige Dialoge – auch wenn uns am Ende anderes verkauft wird. Der zweite Punkt ist ein besonders ambivalenter: Cameos und Easter Eggs stellen Faktoren da, die von Fans erwartet wird. Die gibt es hier zur Genüge und zwar in einer solchem Dimension, dass einem die Ohren schlackern. Leider stellt der Trailer hierbei vorschnell verschossenes Pulver dar, denn jeglicher Wow-Effekt wie in Spider-Man: No Way Home verpufft angesichts der Spoiler, die durch Marvel eigenständig in den Umlauf gebracht wurden. Sehens- und erinnerungswürdig ist das trotzdem alles, auch wenn die Konsequenzen längst nicht so groß sind. Trotzdem: Ein Film, den Fans tagelang mit Finger auf der Fernbedienung sezieren können, so hoch ist die Dichte an Insidern und Anspielungen.

Fazit

Doctor Strange in the Multiverse of Madness hebt sich auf extravagante Weise aus dem MCU hervor und präsentiert einen echten Horror-Einschlag, wie man ihn im Rahmen eines Superhelden-Blockbusters nicht vermuten würde. Die Menge an Figuren, Welten, Referenzen und Twists ist ein konzeptionelles (und mit der verbundenen Logistik) organisatorisches Meisterstück. Der Plan eines großen Multiversums geht mangels anderem Fokus nur bedingt auf, die Verzahnung von Filmen und Serien hingegen läuft wie eine geölte Maschine. Nun sollte nur noch das Marketing aufhören, die größten Überraschungen zugunsten voller Säle vorwegzunehmen. Am Endprodukt gibt es außer den verpassten Chancen wenig auszusetzen,  denn vor allem die Wendungen im zehnminütigen Takt sorgen für sehr viel Kurzweil. Es bleibt zu hoffen, dass Sam Raimi nicht zum letzten Mal für Marvel gearbeitet hat.

© Marvel Studios


Veröffentlichung: 28. Juli 2022

Ayres

Ayres ist ein richtiger Horror- & Mystery-Junkie, liebt gute Point’n’Click-Adventures und ist Fighting Games nie abgeneigt. Besonders spannend findet er Psychologie, deshalb werden in seinem Wohnzimmer regelmäßig "Die Werwölfe von Düsterwald"-Abende veranstaltet. Sein teuerstes Hobby ist das Sammeln von Steelbooks. In seinem Besitz befinden sich mehr als 100 Blu-Ray Steelbooks aus aller Welt.

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Ayla
Redakteur
8. Mai 2022 18:42

FSK 12-Freigabe ausgereizt trifft es gut, bin tatsächlich verwundert, dass der Titel keine Freigabe ab 16 gekriegt hat ^^” Partikulär weil ich einige 16er-Filme kenne, die deutlich harmlosere Szenen aufweisen. Aber hier wurde es teils schon sehr heftig, auch wenn sich Mühe gegeben wurde, das alles nicht zu grafisch werden zu lassen. Wobei mir persönlich der Horror-Anstrich extrem zugesagt hat, eben weil er zum Inhalt gut passt und nicht zu übertrieben und somit fremdartig wirkt (bei ein paar Szenen haben sich jedoch sowohl meine beste Freundin als auch ich erschreckt, das gebe ich zu).

Mir hat Multiverse of Madness jedenfalls sehr gut gefallen. Gerade mit Wanda wird als Figur wirklich sehr konsequent umgegangen und das auch, wenn’s mal weniger schön wird. Man darf wirklich gespannt sein, wie es mit ihrer Figur weitergehen wird. Gerade seit WandaVision gehört sie schlicht zu den interessantesten Charakteren des MCU und es wird deutlich, dass sie und andere Helden, die bis Phase 4 im Schatten von Iron Man & co. standen, jetzt im Rampenlicht stehen. Ich hätte zwar auch gerne mehr von den anderen Multiversen gesehen, die kurz angeteasert wurden, aber es ist halt ein zweistündiger Film. Da ist es besser, sich auf die eigentliche Geschichte/Bedrohung zu konzentrieren. Etwas enttäuscht haben mich die Cameos, schlichtweg weil sie nicht viel zutun haben. Da wäre mehr möglich gewesen.

Auf America hatte ich mich im Vorfeld sehr gefreut, da ich ihre Figur in dem Marvel Rising-Filmchen sehr mochte. Sie hat zwar noch nicht zu viel Eindruck hinterlassen können, aber ich bin extrem gespannt, wie es mit ihrem Charakter weitergeht. Eine eigene Serie wäre ein echter Traum. Das Band zwischen America und Strange mochte ich wirklich, auch wenn dieses ziemlich plötzlich einfach vorhanden war. Doctor Strange hat sich als Figur ohnehin massiv entwickelt, was auch daran liegt, dass er im MCU eine sehr große Rolle innehat.