Hard Candy

Wer erinnert sich noch an Tatort Internet – Schützt endlich unsere Kinder, dieses enthemmte Doku-Soap-Format auf RTL II, dessen erklärtes Ziel es war, (vermeintliche) Pädophile mit gefakten Minderjährigen und versteckter Polizei vor der Kamera in die Falle zu locken? Aufklärung und Vorbeugung von sexuellem Missbrauch war die hehre Motivation der Macher, allerdings fühlte sich das alles eher wie plumpe Rufpolitur für die Guttenbergs an, da niemand anderes als Stephanie zu Guttenberg die betroffen dreinblickende Moderatorin gab. Hard Candy nun scheint die abendfüllende Film-Adaption dieser Sendung zu sein. Ohne Frau von und zu Guttenberg zwar, aber dafür mit Ellen Page, die in der Rolle als 14-jährige Hayley ihrem männlichen Counterpart die Psychotortur seines Lebens verpasst.

    

Im Internet lernt der 32-jährige Jeff Kohlver (Patrick Wilson, Watchmen – Die Wächter, Aquaman), seines Zeichens ein auf minderjährige Models spezialisierter Fotograf, die erst 14-jährige Hayley Stark (Ellen Page, X-Men: Der letzte Widerstand) kennen. Es funkt und so verabreden sich die zwei im Café Nighthawks auf ein Getränk. Jeff ist von der geistig gereiften und völlig unkomplizierten Hayley begeistert und nimmt sie schließlich mit zu sich nach Hause. Gönnerhaft lässt er das junge Ding ein paar Screwdriver mixen, die ihm aber alles andere als gut tun und ihn ins Land der Träume schicken. Als er wieder erwacht, sitzt er gefesselt auf einem Stuhl – vor ihm Hayley, die einen dunklen Plan verfolgt.

Not your everyday Romance

Originaltitel Hard Candy
Jahr 2006
Land USA
Genre Psychothriller
Regisseur David Slade
Cast Hayley Stark: Ellen Page
Jeff Kohlver: Patrick Wilson
Judy Tokuda: Sandra Oh
Janelle Rogers: Odessa Rae
Laufzeit 104 Minuten
FSK

Hard Candy beginnt in einem Chatroom voller Anzüglichkeiten. Ein gewisses „Thonggrrrl14“ lernt „Lensman319“ kennen und sie verabreden sich auf neutralem Boden für das erste Date. Während Hayley sich trotz ihrer ungewohnten geistigen Reife tapsig und unterlegen gibt, macht Jeff einen auf erfahren und weise – und Hayley bestärkt ihn darin. Der Zuseher wird Zeuge einer beunruhigenden Balz. Die Szenen setzen sich überwiegend aus Close-Ups zusammen, die dem Publikum einen größeren Überblick verwehren, denn der Hintergrund samt eventuell existenter Mitmenschen bleibt unscharf. Der Fokus liegt allein auf Hayley und Jeff, was aus Hard Candy ein surreales Kammerspiel macht. Das Gefühl dieser beunruhigenden Intimität bleibt auch dann bestehen, wenn sich die Kamera zu weiten Einstellungen hinreißen lässt. Sonnengebleichte Bilder und flirrende Electro-Klänge vermitteln hier weitläufige Einsamkeit.

Nabokov lässt grüßen

Ihrer Unschuld zum Trotz ist es Hayley, die sich ganz in der Tradition von Nabokovs Lolita Jeff aufdrängt, obwohl man Jeff die Zweifel ansieht. Schließlich lässt er sich überreden und nimmt sie mit zu sich nach Hause. „Das Mädchen ist schuld, warum drängt sie sich auch auf?“ könnte man denken, wenn man einen Schuldigen sucht. Doch der Film entlarvt diesen Gedankengang und kontert: Jeff müsste stark und vor allem erwachsen genug sein, um dieser Situation Einhalt zu gebieten. Hayley hält der Rape Culture den Spiegel vor und kommentiert: „<Oh, sie war so sexy. Sie wollte es doch. Genau genommen ist sie zwar noch ein Mädchen, aber sie benimmt sich wie eine Frau.> […] Nur weil ein Mädchen eine Frau imitieren kann, bedeutet das nicht, dass sie bereit ist für das, was Frauen tun.“ Als Zuseher könnte man denken, Hard Candy gehe in dieselbe Richtung wie I Spit on Your Grave, soll heißen Rape and Revenge. Das setzt jedoch voraus, dass Hayley zu Beginn in die Falle geht. Allerdings entpuppt sich das ganze Szenario als von Anfang an konstruierte Falle von Hayley. Das Filmposter, das sie als Rotkäppchen in einer scharfen Bärenfalle zeigt, ist dahingehend eine mehr als akkurate Beschreibung des Plots.

Der Wolf als Opfer

Nach 30 Minuten Laufzeit ist es dann soweit und Hard Candy vollzieht einen Rollentausch. Der Subplot eines vermissten Mädchens tut sich auf und es wird klar, dass Hayley Jeff im Verdacht hat und die Rolle des Racheengels einnimmt. Das Rotkäppchen greift zur Axt des Jägers und zerrt den Wolf zur Schlachtbank, wo Skalpell, Eisbeutel und ein Medizinlehrbuch auf ihn warten. Trotz der Freigabe ab 18 ist Hard Candy aber überraschend subtil was die Darstellung betrifft. Denn das eigentliche Schlachtfeld ist verbal: In kratzigen und scharfen Dialogen wird die Kommerzialisierung von jugendlicher Sexualität angeprangert. Doch obwohl die Fotomodels von Jeff (und das vermisste Mädchen) den Treibstoff für die Geschichte darstellen, werden deren Körper, deren Gesichter und abgelichtete Posen nie gezeigt, was ungewöhnlich ist, da das Weibliche eigentlich immer gern von den Kameras eingefangen wird, vor allem wenn es um körperliches Leid geht. Stattdessen hält Hard Candy volle Kanne auf Jeffs Leiden drauf, inklusive Schweiß, Blut und Tränen. Patrick Wilson gibt eine beeindruckende Performance als angeschlagenes Raubtier, dem ein herber Verlust bevorsteht, und Ellen Page überrascht hinter ihrer jugendlichen Fassade voller Süße und Unschuld mit einer harten, erschreckenden Abgeklärtheit.

Trägt er Schuld?

Eine der vielen interessanten Facetten von Hard Candy ist die Schuldfrage, denn den Großteil des Films über weiß man nicht, inwiefern Jeff tatsächlich schuldig ist. Natürlich betrachtet man es erst einmal skeptisch, wenn ein erwachsener Mann ein junges Mädchen mit zu sich nach Hause nimmt und es Drinks mixen lässt, aber im Grunde hat er noch nichts Schlimmes getan – seine pädophilen Neigungen sind nicht erwiesen. Vielleicht ist er gar nicht das Monster, das Hayley in ihm sieht. Darüber hinaus scheint Hayley in ihrer Selbstjustiz ziemlich fanatisch, geradezu psychopathisch, sodass Jeff quasi der Normalo ist, mit dem man sympathisiert. Der Zuseher muss für sich entscheiden, inwieweit er mit dieser Form der Selbstjustiz d’accord geht. Sollte Jeff gefoltert oder gar getötet werden? Wäre nicht eine Gerichtsverhandlung angemessener? Oder kann nicht einfach der Typ von RTL II das Theater beenden, aus dem Schrank springen und Jeff anklagend das Mikro unter die Nase halten, mit dem als Busch verkleideten Polizisten im Rücken?

Meinung

Hard Candy ist ein cleverer Film, ein Mix aus Psychohorror und böser Comedy mit schicken Visuals und simplem Setup. Es gibt gerade mal fünf Figuren. Eine von ihnen ist der Typ im Nighthawks, der Hayley und Jeff süßen Kuchen verkauft. An anderer Stelle taucht Sandra Oh (Grey’s Anatomy) auf und verkauft Kekse. Der Rest des Films fokussiert sich auf ein Psychopathen-Mädel, das sich einen (vermeintlichen) Pädophilen gefangen hält und ihn durch psychische Drangsal zum Geständnis seiner Neigungen zwingen will. Ein minimalistisches Szenario, das sich auch hervorragend im Theater machen würde (und in Berlin bereits in einem solchen aufgeführt wurde). Das Szenario an sich ist einfach gehalten, doch die Ambiguität macht es kompliziert. Ist das Opfer der Böse? Ist der Rachengel unsere Heldin? Ist es ok, mit irgendwem zu sympathisieren? Und woher weiß Hayley eigentlich alles, was sie weiß? Kann mir doch keiner erzählen, dass sie erst 14 Jahre alt ist. Aber am meisten frage ich mich, was Hayley am Ende denkt, wenn diese wundervolle und doch irgendwie elegische Coda über den Bildschirm flimmert. Wer kontroverse, unangenehme Filme mag, der wird an Hard Candy seine Freude haben.

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Totman Gehend

Totman ist Musiker, zockt in der Freizeit bevorzugt Indie-Games, Taktik-Shooter oder ganz was anderes und sammelt schöne Bücher. Größtes Laster: Red Bull. Lieblingsplatz im Netz: der 24/7 Music-Stream von Cryo Chamber auf YouTube.

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Ayres
Redakteur
18. Februar 2019 22:49

Tatsächlich ist es schon sehr lange her, dass ich den Film gesehen habe (2007) und obwohl er mir damals sehr gut gefiel, war mir gleich klar: der schafft es nicht in meine Filmsammlung, der ist mir zu schwer, um ihn ein zweites Mal anzusehen. Und so sollte es dann auch bleiben. Ich spreche generell auch nur sehr ungerne über den Film, weil mir tief in Erinnerung bleibt, dass ich für Jeff unheimlich starke Sympathien besaß und Hailey total zum Kotzen fand. Aus heutiger Perspektive liest sich das bizarr, aber ich hatte wohl wirklich triftige Gründe dafür. Ganz abseits irgendeiner Moral. Außerdem fand ich Hailey für eine 14-jährige ziemlich unglaubwürdig. Wäre da nicht das Ding mit dem Alter, hätte ich sie lieber 17 gewusst.