Violet Evergarden (Folge 7)
“Wenn du kannst, dann lauf über die Blätter des Sees.” In Folge 7 von Violet Evergarden werden poetischere Töne angeschlagen, Violet wird zu dem Schriftsteller Oscar geschickt, der ihr sein neues Bühnenwerk diktieren soll. Es ist ein Stück für Kinder und doch entpuppt es sich als ein Karussell der Emotionen. Nicht nur für Violet, die mit der Geschichte mitfühlt, sondern auch für Oscar, da Violet ihn an die wichtigste Person in seinem Leben erinnert…
Oscar Webster ist ein bekannter Bühnenautor. Doch hat er seit einer Weile nichts mehr veröffentlicht. Nun soll ein neues Werk erscheinen, für das ihm Violet als Schreibhilfe zugesandt wird. Noch an der Tür ist er davon überrumpelt, wie ähnlich Violet seiner verstorbenen Tochter sieht. Als Violet einen Sonnenschirm mit Rüschen entdeckt und ihn ohne böse Absichten benutzt, platzen seine Wut und sein Kummer aus ihm heraus. Zumindest in seiner Geschichte soll es ein glückliches Ende für alle geben. Eines, für das Violet die Inspiration schafft.
“Ich dachte, es gäbe keinen Gott. Doch wenn es einen gäbe, dann wärst das wohl du.”
Diesen Satz spricht Oscar aus, nachdem Violet, die seiner Tochter so ähnelt, ihm für einen Augenblick die Illusion gibt, sie könne mit dem Sonnenschirm über die Blätter des Sees laufen. In Stellvertretung erfüllt sie den Fantasiewunsch seiner Tochter und beschert ihm ein kleines Wunder. In der deutschen Synchronisation wird der Satz ganz anders übersetzt, doch liegt es nahe, dass das auch der letzte Satz sein könnte, den der fiktive Vater zu der Heldin Olive nach dessen Rückkehr in Oscars Bühnenwerk spricht. Auf diesen letzten Satz legt die ganze Folge seinen Fokus. Sei es die Schlussszene des Bühnenspiels, welches Erika besucht oder der letzte Satz des gleichen Werks, das Violet liest. Oscars Vorwerk endet mit dem Aufschrei, dass ein Sünder für den Rest seines Lebens mit dessen Konsequenzen lebt. Sein neues Werk beschreibt, wie ein Mädchen zurückkehrt und alle ein glückliches Ende finden. Beide Geschichten haben offensichtliche Parallelen zu Violet. Diese Folge hat eine gewissen wegweisenden Charakter. Am Ende werden alle glücklich. Diese Serie wird nicht wie Oscars düsteres, blutiges Vorwerk enden. Das würde auch nicht gut zur Serienstimmung passen.
Violet lernt Empathie zu benennen
Das heißt aber nicht, dass es in der Handlungsmitte zu Turbulenzen kommen kann. Die Geschichte um Oscar hat eine Rahmenhandlung. Dabei handelt es sich um das, was man unmittelbar nach der Schlussszene mit Diethards Vorwürfen aus der vorletzten Folge erwartet hätte. Doch gibt diese Folge der letzten nachträglich durchaus noch einiges an Mehrwert, denn es gibt den hier vorgestellten Emotionen eine größere Tragweite und Authentizität. Man sieht Violet, wie sie im Stillen über die Worte nachdenkt und etabliert, dass selbst eine erfahrenere und reifere Violet Gilbert vermisst, jetzt erst recht, da sie nun verstanden hat, was es heißt Menschen zu haben, die einem viel bedeuten. Brachte ihr Auftrag bei Leon sie mit Einsamkeit in Berührung, wird sie nun mit dessen Steigerung konfrontiert: Trauer durch Verlust. Trauer ob der eigenen Machtlosigkeit gegenüber höherer Gewalt. Eine Trauer, die sie selbst als Kriegssoldatin verursacht hat. Dessen Bedeutung Hopkins schon an ihrem ersten Arbeitstag benannte, sie aber ablehnte. Gerade aus dem Krieg gekommen, war sie nur eine Kriegsmaschine im Gewand eines schönen Püppchens. Jetzt kann sie mitfühlen, Wünsche äußern und sogar Menschen, wie Oscar als “schwierig” bewerten. Den letzten Öltropfen, der ihr Lodern aufflammen lässt, erhält sie von den Evergardens, denen beiläufig und ohne Absicht herausrutscht, was alle ihr verheimlicht haben.
Lebt Gilbert noch?
Eines gibt die Eröffnung durchaus zu denken. Legte sie Stimmung bislang sehr nahe, dass Gilbert im Krieg verstorben ist, und alle sich davor gedrückt haben Gilberts Abwesenheit beim Namen zu nennen, wirkt es nun fast schon zu einfach. Zudem wird sein bisheriges Ablegen mit Hopkins’ Aussage nun zu einem Verschollen. Auch wird die Aussage mit einem Flashback unterlegt, der Unstimmigkeiten mit sich bringt: Violets letzte Erinnerung an Gilbert ist, wie sie innerhalb eines Gebäudes sind. Sie sind zwar auf einer Treppe, doch es ist durchgehend dunkel, also überdacht. Hopkins’ Flashback zeigt sie auf dem offenen Feld am Fuße einer Treppe, die ganz anders aussieht. Violet hätte sich ohne Zweifel niemals von Gilbert entfernt, selbst wenn sie im Bombardement umgekommen wäre. Entsprechend müsste sie ohnmächtig von jemanden dort hin geschleift worden sein. War das Gilbert? Gilbert konnte sich trotz all des Blutverlusts noch etwas bewegen. War das seine letzte Tat, ehe das Bombardement ihn pulverisiert hat? Oder gab es doch noch Dritte, die ihm ein Abtauchen ermöglicht haben? War das vielleicht sogar Hopkins, der Violet nun eine Halbwahrheit auftischt? Es würde einen guten Moment abgeben, wann und warum gerade ihm Gilbert Violet anvertraut hat.
Es ist schade, dass die Episodentitel auf Netflix nicht übersetzt werden. Sie sind weitgehend die gleichen, wie die letzten Sätze der Folge und benennen auch abstrakt ein im Hintergrund liegendes Thema der Folge, das bis auf alle, die mit Gilbert zu tun haben, aus positiven Wünschen bestehen und im Zusammenhang mit Violet fallen. Diese Folge endet mit Violet, die davonrennt und schweigt. Gleichzeitig ist der Episodentitel leer. Ist das, was Violet gerade fühlt ohne ein bezeichnendes Wort? Oder kennt Violet es lediglich noch nicht? Das Schweigen hat eine ungemein starke Wirkung, denn es zeigt auch, dass sie niemanden hat, dem sie sich mit ihren Gefühlen anvertraut. Hopkins war es nicht und wird es nach der Lüge bzw. Verheimlichung erst einmal sicherlich nicht mehr werden. Vor den Evergardens ist sie nach wie vor ziemlich entfremdet und ihnen gegenüber fühlt sie zuviel Scham aufgrund ihrer initialen Respektlosigkeit. Wenn man menschliche Gefühle thematisiert, dürfte Vertrauen eines der wichtigsten überhaupt sein. Es würde sich sehr gut als eine der nächsten Gefühle anbieten, die Violet noch kennen zu lernen hat. Wer wird es wohl sein? Cattleya in einer Mentorfigur? Oder doch eine ganz neue Figur im Rahmen eines ihrer nun zahlreichen Aufträge? Ich bin auf jeden Fall gespannt, denn nun zur Halbwertszeit hat die Serie nicht nur zeitig genug die Katze aus dem Sack gelassen, sondern auch endlich eine gute Balance gefunden zwischen Herzschmerz und emotionaler Heilsbotschaft, die nicht mit einem vollen Fuß (oder gar beiden) in typischen Kitsch versinkt.
Zweite Meinung:
Die Serie bekommt vielleicht doch noch die Kurve. Zumindest gefällt mir die Folge recht gut, ich finde die Story of the Week ganz nett, etwas zu emotional und etwas sehr durch Zufälle geleitet, aber nicht wirklich schlimm. Hätte Violet nicht wie seine Tochter ausgesehen, dann hätte er sie vermutlich nicht heineingelassen und die Folge wäre nach fünf Minuten vorbei, daher ganz gut so wie es abläuft. Besonders gefällt mir, dass man mit dieser Folge die Beziehung von Violet und Gilbert auf eine Vater-Tochter-Beziehungsebene hebt. Es spricht zwar nicht für die Serie, dass man das zu Beginn so deutlich so zeigt, als liebe Gilbert Violet als Frau, um der Serie die Würze zu verleihen, aber in den letzten Folgen wird alles geschickt korrigiert. Erst kommt Violets Alter heraus, dann ihr Teenage Love Interest gezeigt, der “Vater” wird in der Folge kurz vergessen und nun sagt Oscar in Gedanken ähnliche Worte zu seiner Tochter, wie einst Gilbert vor seinem vermeintlichen Tod zu Violet. Ob Gilbert lebt oder nicht, ist nicht relevan. Er wollte, dass sie zu einer selbstständigen Person wird und das wird sie am Ende der Serie sein. Selbst, wenn Gilbert zurückkehrt, wird sie nicht mehr sein Hund sein. Sie ist entweder weiterhin der Hase im Hasenbau von Hopkins oder die Katze, die durch die Gegend streift und die Welt entdeckt. Daher ist es auch schön, dass die beiden Plüschtiere wieder einen Auftritt haben.