Chernobyl

Es gibt ein paar Momente in der Geschichte der Menschheit, die mit einem Schlagwort belegt werden, was später Gänsehaut auslöst, selbst wenn man keine genauen Details kennt. Tschernobyl ist eines davon. Craig Mazin ist als Produzent und Drehbuchautor eher für seine Arbeit an albernen Filmreihen wie Scary Movie oder Hangover bekannt. Aber er hat sich mit der Explosion in Reaktor 4 des Kernkraftwerkes W.I. Lenin auseinandergesetzt und verarbeitet sowohl Ursachen als auch Folgen in der fünfteiligen Miniserie Chernobyl. Es geht um menschliches Versagen, Schönrederei, Vertuschungen und den eisernen Willen, die schlimmsten anzunehmenden Konsequenzen abzuwenden. Kann das dramatisch aufbereitet werden ohne Geschichtsverfälschung zu betreiben?

Es ist der 26. April 1986. Im Kernkraftwerk Tschernobyl wird ein Versuch durchgeführt, um zu testen, ob bei einem Ausfall die Zeit bis zum Anspringen des Notstromes mit ausreichend Turbinenkraft überbrückt werden könnte. Es ist 1:23 Uhr in der Nacht und etwas geht schief. Trotz Notabschaltung kommt es zu einer Explosion. Der stellvertretende Chefingenieur Anatoly Dyatlov geht davon aus, dass es sich dabei um einen Kühltank handeln muss. Alle umliegenden Feuerwehren werden bestellt, denn das Dach von Reaktor 4 brennt. Eine Notfallsitzung wird einberufen, die Männer versichern sich gegenseitig, dass sie alles im Griff haben. Niemand glaubt, dass der Kern beschädigt sei und das wird auch Moskau gemeldet. Valery Legasov, ein Experte für Atomreaktoren vom Typ RBMK, wird mitgeteilt, dass er nun Teil einer Kommission ist, die sich mit dem Unglück befassen soll. Er findet in den Berichten erschreckende Details, die darauf hindeuten, dass die Gefahr weitaus größer ist als angenommen. Zusammen mit Minister Boris Shcherbina wird er nach Tschernobyl geschickt, um die Lage vor Ort zu klären. Und dann lässt es sich nicht länger leugnen: der Kern von Reaktor 4 liegt frei, der Wind treibt eine radioaktive Wolke über den Kontinent und die Folgen einer Kernschmelze könnten riesige Landstriche unbewohnbar machen.

Für ein breites Publikum gemacht

Originaltitel Chernobyl
Jahr 2019
Land USA
Episoden 5 (in 1 Staffel)
Genre Drama
Cast Valery Legasov: Jared Harris
Boris Shcherbina: Stellan Skarsgård
Ulana Khomyuk: Emily Watson
Lyudmilla Ignatenko: Jessie Buckley
Vasily Ignatenko: Adam Nagaitis
Anatoly Dyatlov: Paul Ritter

Chernobyl ist keine Dokumentation, sondern eine Dramaserie. Wer nüchterne Fakten möchte, kann sich durch einen Stapel Bücher lesen oder Zeitzeugenberichte inklusive Videomaterials im Internet zusammensuchen. Wer die Aufarbeitung der Geschehnisse als spannende Erzählung verfolgen möchte, ist mit diesem von HBO produzierten Fünfteiler bestens bedient. Die erste Szene zeigt, wie Valery Legasov im April 1988 eine Tonbandaufnahme beendet, die Kassetten in einem Versteck deponiert und sich dann selbst erhängt. Das setzt ihn direkt als tragische Figur in den Mittelpunkt der Ereignisse. Was hat diesen Mann in den Selbstmord getrieben? Sehr effektiv gibt es einen Zeitsprung von zwei Jahren und einer Minute in die Vergangenheit, zur Explosion in Tschernobyl. Was genau hier passiert ist, bleibt zunächst unklar. Die Rekonstruktion der Ereignisse wird auf später verschoben, im Vordergrund steht zunächst die Reaktion der Beteiligten. Feuerwehrmann Vasily Ignatenko wird aus dem Bett geklingelt und samt Ehefrau Lyudmilla vorgestellt. Diese beiden sind besonders für das emotionale Element der Serie verantwortlich. Er gehört zu den Ersthelfern, die sich unwissentlich der Strahlung aussetzten. Dieses Einzelschicksal steht stellvertretend besonders für die Einwohner des nahegelenden Prypjat, das erst 36 Stunden nach dem Unglück evakuiert wurde.

Fakt und Fiktion

Die Miniserie endet mit Texttafeln, die ein paar wichtige Fakten benennen und direkt auf einige Freiheiten hinweisen, die vorgenommen wurden. Am auffälligsten ist dabei die Figur Ulana Kbomyuk. Diese Kernphysikerin hat es nicht gegeben. Legasov wurde bei seiner Arbeit jedoch von mehreren Wissenschaftlern unterstützt, die für Chernobyl zu einer einzelnen Person verschmelzen. Das macht die Erzählung flüssiger und der Zuschauer sieht sich nicht mit noch einem Dutzend weiterer Figuren konfrontiert. Der gezeigte Hubschrauberabsturz ist ebenfalls nicht korrekt widergegeben. Dieser fand erst im Oktober während weiterer Aufräumarbeiten statt. Originalaufnahmen sind dazu schnell im Internet gefunden. Aus dramaturgischen Gründen ist eine Vorverlegung dieses Unfalls jedoch nachvollziehbar. So ist es auch verständlich, dass Legasovs Frau und Tochter keine Erwähnung finden, da sie für die Geschichte als solche unerheblich sind. Sie zusammen mit der Familie von Boris Shcherbina nicht zu erwähnen, sollte nicht als Respektlosigkeit ausgelegt werden. Der Fokus von Chernobyl liegt auf der langen Kette an Ereignissen, die zur Explosion führten, sowie den schwierigen Entscheidungen, die getroffen werden mussten. Immer dabei eine Regierung, die mehr Angst davor hat das Gesicht vor der Weltöffentlichkeit zu verlieren, als um die eigene Bevölkerung.

Kein Hit in Russland

Letzteres ist der Grund dafür, dass die Serie in Russland nicht überall mit Wohlwollen aufgenommen wird. Da wird bereits gemunkelt, dass eine heimische Gegenproduktion in Auftrag gegeben wurde. Es ranken sich gar wilde Verschwörungstheorien darum, dass hinter der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl ein bewusster Anschlag aus dem Westen steckt. (Verschwörungstheoretikern rund um den Globus mangelt es bekanntlich nicht an Themen, siehe Mondlandung, Challenger-Unglück, 9/11, die Illuminati. Freimaurer, eine flache Erde, Chemtrails usw.) Was hierzulande als nachhaltiger Beweis gilt, dass die damalige sowjetische Regierung zu spät und mit zu viel Geheimniskrämerei reagiert hat, wird von kreml-treuen Medien als Lüge deklariert. Chernobyl trifft hier einen besonderen Nerv, der noch immer bestehende Probleme in Politik und Gesellschaft sowie dem Umgang miteinander aufzeigt. Dabei erlaubt sich die Serie den moralischen Zeigefinger nicht zu sehr zu bewegen. Der KGB mit der ständigen Überwachung und Zensur kriegt sein Fett weg. Ansonsten geht es aber vor allem darum, Legasov als jemanden darzustellen, der gegen die Bürokratie kämpft, während er das richtige tun will. Und der dabei ein stolzes Volk im Rücken hat, das bereit ist Opfer zu bringen. Die Tugenden von Loyalität und Pflichtbewusstsein der sowjetischen Bevölkerung werden positiv dargestellt. All den Helfern, die abkommandiert wurden und ihre Gesundheit ruinierten, wird Dank und Respekt entgegen gebracht.

Qualitätsprodukt auf ganzer Linie

Technisch überzeugt Chernobyl auf ganzer Linie. Gedreht wurde vor allem in Litauen, wo das stillgelegte Kernkraftwerk Ignalina als Tschernobyl Double dient. Die Hauptstadt Vilnius springt für Prypjat ein. Autos, Kleidung, Frisuren und Alltagsgegenstände lassen die 80er Jahre wieder aufleben. Der Schwede Johan Renck hat bei allen fünf Episoden Regie geführt. Bekannt ist er vor allem für seine Arbeit an Musikvideos und Werbeclips. Und er weiß genau, wie er wichtige Details bestens in Szene setzt. Die fünfminütige Evakuierungssequenz beginnt etwa mit einer Kolonne von Bussen, die wie Heuschrecken in den Alltag der Bewohner einfallen. Danach macht sich die Atmosphäre einer Geisterstadt breit. Es ist eine bedrückende Stimmung, die aber nicht in unnötige Theatralik driftet. Auf billige Schockeffekte wird verzichtet, auch wenn einige Strahlungsopfer im Krankenhaus gezeigt werden.

Fazit

Ich war anfangs skeptisch, ob ich die Serie überhaupt schauen sollte. Das Thema Tschernobyl ist mir vertraut, ich habe sogar dunkle Kindheitserinnerungen an die Zeit als Eltern nicht wussten, ob sie Kinder in die Sandkästen lassen sollten. Es gibt momentan genug Katastrophen auf der Welt. Schon nach wenigen Minuten hat mich die erste Episode dann aber überzeugt. Besonders gelungen finde ich, wie Legasov immer wieder wissenschaftliche Erklärungen liefert. Er fasst die Situation innerhalb der Serie für die Umstehenden zusammen und liefert so dem Zuschauer das nötige Hintergrundwissen. Folgen 1 bis 4 enden zudem immer mit einem kleinen Schlag in die Magengrube, dass man direkt dran bleiben möchte. Wie eine Miniserie das schaffen muss. Die Bilder von Leuten, die verstrahlte Trümmer schaufeln, in Beton gegossene Zinksärge, das Zusammentreiben der zurückgelassenen Haustiere – es gibt ein stimmiges Gesamtbild, ohne zu weit von der ursprünglichen Katastrophe abzuweichen. Die künstlerischen Freiheiten ein paar Ereignisse zu verschieben, zusammenzufassen oder mit einer Portion extra Spannung zu versehen, sind wohl überlegt. Ein Aufbereitung der Geschehnisse kann in weniger kompetenten Händen schnell zu purem Pathos oder langweiligem Abspulen von Fakten werden. Und dann wäre der Griff zu einer Doku wiederum besser. Wem die persönliche Ebene hier zu kurz kommt, dem sei das Buch Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft empfohlen. Die Journalistin und Autorin Swetlana Alexijewitsch hat über Jahre Opfer und Helfer interviewt und deren Erlebnisse festgehalten. Chernobyl hingegen ist Politthriller, Katastrophendrama und fiktionalisierte Nacherzählung. Auf bestmögliche Art und Weise.

© HBO/Sky Atlantic

Misato

Misato hortet in ihrer Behausung fiktive Welten wie ein Drache seinen Goldschatz. Bücher, Filme, Serien, Videospiele, Comics - die Statik des Hauses erlaubt noch ein bisschen, der Platz in den Regalen weniger. Am liebsten taucht sie in bunte Superheldenwelten ein, in denen der Tod nicht immer endgültig ist und es noch gute Menschen gibt. Íhr eigenes Helfersyndrom lebt sie als Overwatch Support Main aus und adoptiert fleißig Funko Pops.

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