The Girl with All the Gifts
Bricht man die Handlung etwas herunter, dann könnte The Girl with All the Gifts als Coming-of-Age-Film durchgehen. Protagonistin Melanie ist ein (freilich nicht ganz) gewöhnliches Mädchen, das jeden Tag zur Schule geht, allmählich eine Zuneigung für ihre Lieblingslehrerin entwickelt und allgemein für sich herausfinden muss, was ihr im Leben wichtig ist. Der große Unterschied: Die Schule befindet sich auf einer Militärbasis und Melanie ist eine Gefangene, die von Natur aus eigentlich Menschen frisst. Man könnte meinen, dass man das Zombiefilm-Genre in den letzten 20 Jahren totgenudelt hat, doch irgendwo gibt es immer jemanden, der es noch schafft, frische Ideen aufzukratzen. So wie Regisseur Colm McCarthy mit seiner Filmadaption von The Girl with All the Gifts. Es geht um Zombies, klar, aber auch um Verantwortung, das Erwachsenwerden und allgemein den nächsten Schritt in der Evolution.
Die Menschheit steht kurz vor der Auslöschung. Aufgrund einer pilzartigen Infektion ist der Großteil der Weltbevölkerung zu zombieartigen, menschenfressenden “Hungries” verkommen. Die wenigen Überlebenden verbarrikadieren sich hinter Zäunen und arbeiten daran, ein Heilmittel gegen den Pilz zu finden. Der Schlüssel hierbei liegt aufgrund bestimmter Begebenheiten in Melanie (Sennia Senua) und den anderen Kindern, die trotz Pilzinfektion bei Verstand geblieben sind. Nur wenn sie dem Geruch der Menschen direkt und ungefiltert ausgesetzt sind, übernehmen ihre Hungry-Triebe die Kontrolle. Im Schutze einer Militärbasis, in der man den gefangenen Kindern eine Art Alltag mit Schule vorgaukelt, wird an ihnen geforscht. Doch dann überrennen die Hungries die Basis. Einem kleinen Trupp gelingt die Flucht, darunter auch Melanies vergötterte Lehrerin Miss Justineau (Gemma Arterton, Hänsel und Gretel – Hexenjäger). Melanie, immer noch in Ketten, begleitet die Überlebenden und findet sich als Grenzgängerin im Widerstreit zwischen dem Wunsch, ihren Platz in dieser Welt finden und gleichzeitig Miss Justineau zu beschützen.
Esoterische Welt unter Tage
Originaltitel | The Girl with All the Gifts |
Jahr | 2016 |
Land | Großbritannien |
Genre | Drama, Horror |
Regie | Colm McCarthy |
Cast | Melanie: Sennia Nanua Miss Justineau: Gemma Arterton Dr. Caroline Caldwell: Glenn Close Sgt. Eddie Parks: Paddy Considine Private Kieran Gallagher: Fisayo Akinade |
Laufzeit | 112 Minuten |
FSK | |
Veröffentlichung: 23. Juni 2017 |
The Girl with All the Gifts startet mit einem unangenehmen und höchst interessanten ersten Akt, der die Prämisse dieser Welt erklärt. Die 10-jährige Melanie hockt in ihrem Kerker, übt mit ihren Fingern das Zählen, kriegt dann und wann eine Schale mit Würmern durch den Türschlitz hereingereicht und wird jeden Morgen an einem Rollstuhl gefesselt zusammen mit anderen Kindern unter strengen Sicherheitsauflagen in das Klassenzimmer gekarrt. Vordergründig zu Bildungszwecken, vor allem aber zu Forschungszwecken. Nichts am Verhalten der Kinder rechtfertigt, dass man ihnen immerzu Knarren ins Gesicht hält. Zumal Melanie selbst in diesen Situationen stets höflich bleibt, jeden Soldaten per Namen grüßt und sich unter der Anleitung ihrer Lieblingslehrerin Miss Justineau zur Musterschülerin mausert. Die Esoterik dieses unterirdischen Kosmos wird verstärkt durch den Score von Cristobal Tapia de Veer (Utopia (2013)), der die unerklärlichen Alltagsrituale mit Klängen unterlegt, die irgendwo zwischen Obertongesängen, religiösen Mantren und thereminartigen Frauenstimmen angesiedelt sind.
Ein kannibalistischer Sonnenstrahl
Strahlender Höhepunkt von The Girl with All the Gifts ist Newcomerin Sennia Senua in ihrer Rolle als Melanie. Melanie ist klug, anständig, gut gelaunt, kann gleichzeitig aber auch sehr brutal sein. Ihre Performance ist der Schlüssel für die Wirkkraft von The Girl with All the Gifts. Die Kamera fängt vor allem Melanies Sicht der Dinge ein – das und ihre unbedingte Zuneigung für Miss Justineau, die Melanie als menschliches Wesen sieht und wahre Mutterinstinkte entwickelt. Der kühle rationale Part wird von Dr. Caldwell übernommen (wunderbar streng: Glenn Close, What Happened to Monday?), die zum Wohle der Menschheit jedes Opfer in Kauf nehmen würde und in Melanies besonderen kognitiven Fähigkeiten die Essenz für das Heilmittel sieht. Zu guter Letzt haben wir natürlich noch Sergeant Eddie Parks (Paddy Considine, The Outsider) und Private Gallagher (Fisayo Akinade, David Copperfield – Einmal Reichtum und zurück) als Vertreter des militanten, pragmatischen Typs. Eine bunte Truppe also mit gegensätzlichen Interessen.
Das Dilemma der Melanie
Zusammen bilden sie das Survival-Team, das sich auf der Suche nach einer geschützten menschlichen Enklave durch mit Hungries vollgestopften Städte wagt. The Girl with All the Gifts ist hier quasi im üblichen Erkunden-und-Verteidigen-Modus des Zombiefilms: Momente der Ruhe, in denen wir wissenschaftliche Erklärungen bekommen oder einfach die Möglichkeit, das postapokalyptische Produktionsdesign zu bewundern, werden abgelöst durch gelegentliche Ausbrüche von blutiger Gewalt. Dabei kommt es zu neuen Entdeckungen, die die Dynamik innerhalb der Gruppe auf subtile Weise verändern. Mit der Zeit wird klar, dass Melanie – obwohl sie wie ein Hund gehalten wird – die Überlegene ist; dass die Welt wie für sie gemacht ist. Warum sollte sie also ihre Natur und ihr Potential unter den Scheffel stellen? Sich ausbeuten lassen, nur damit die Menschheit vielleicht überleben kann? Melanie erkennt das, doch ihre Zuneigung für Miss Justineau bindet sie an die Menschen. Das schenkt dem Film ein feines Dilemma, welches spannend zu verfolgen ist und geradezu bitter endet.
Fazit
Wer die Standard-Zombie-Apokalypse erwartet, der wird bei bei The Girl with All the Gifts eher enttäuscht. Zwar ist der Film durchaus brutal und beinhaltet auch das zombie-typische Militär-Klischee, viel wichtiger ist hier aber die soziale Komponente. Was wäre, wenn die Menschheit schlicht das Ende der Fahnenstange erreicht hat und nun durch eine neue Hybrid-Form abgelöst wird? Wie würde man miteinander umgehen? Das ist ein Szenario, das man eher weniger aus diesem Genre kennt. Drehbuchautor Mike Carey adaptiert hier seinen eigenen Roman für die Leinwand und lässt ihn von Regisseur McCarthy schmackhaft (höhö) und spannend in Szene setzen. The Girl with All the Gifts ist eine Geschichte über kindliche Kannibalen und Erwachsene, die sie gleichsam fürchten, lieben und studieren, und die in Verbindung mit dem eindringlichen Score von Cristobal Tapia de Veer und dem zynischen Ende ein durchaus sehenswertes Genre-Erlebnis ist.
© Universum Film
Veröffentlichung: 23. Juni 2017