Control vs. Auslöschung

Wenn es um Games geht, dann sind wir ziemlich vertraut mit den üblichen Genres wie Sci-Fi, Horror oder Fantasy. Doch fiele ein Game in die Kategorie „New Weird“, müssten einige Spieler wohl erst einmal zusehen, wo sie bleiben. New Weird ist oft ein Mix aus allen der zuletzt genannten Kategorien, doch wenn man es auch nur einem dieser Genres allein gegenüberstellt, würde es wie keines davon wirken. Es ist sogar bezeichnend, dass viele Autoren eine Klassifizierung ihres Stils als New Weird als einschränkend empfinden und deswegen vehement ablehnen. Die Ablehnung von Konformität ist vermutlich das Einzige, was dieses Genre eint. Einem größeren Publikum wurde New Weird mit der Verfilmung von Jeff VanderMeers Auslöschung bekannt. Die Game-Branche ist mittlerweile nachgezogen. Remedy Entertainment brachte 2019 mit Control eines der ersten New Weird-Games im Mainstream heraus – und wurde dabei maßgeblich von Jeff VanderMeer beeinflusst.

Gut, relativieren wir das etwas: Bereits BioShock (2007) und Dishonored (2012) enthielten Elemente des New Weird, doch Control hat das New Weird-Bimmel-Bingo definitiv gewonnen. New Weird verwandelt Sci-Fi, Fantasy und Horror zu einem zusammenhängenden Ganzen und stellt diese Genres gleichzeitig auf den Kopf. Die Geschichten sind oft fantastisch, aber auf eine so derart verdrehte Weise, dass die sonst für Fantastik übliche romantische Vorstellung des komfortablen Staunens eher zu einem beunruhigenden Fremdeln wird. Oft geht es in New Weird um einen seltsamen Ort und wie dieser sich auf die Menschen auswirkt. In Control handelt es sich bei diesem Ort um das Älteste Haus, einem formverändernden Betonkoloss, der von außen quasi unsichtbar ist und innen eine Welt so groß wie der Kosmos beherbergt. Ein Ziel der Spieleentwickler sei es gewesen, nicht die übliche Geschichte zu erzählen die in einer Welt passiert. Nein, sie wollten eine Welt kreieren, in der eine Geschichte passiert. Klärung der Prioritäten: Der Ort ist das Maß der Dinge.

In Interviews sprechen Controls Creative Directory Sam Lake und Narrative Designerin Anna Megill überraschend offen über die äußeren Einflüsse von Control, insbesondere darüber, dass es zwischen Control und VanderMeers Auslöschung klare Parallelen gäbe. In erster Linie wollten die Entwickler dieses strange Gefühl aus Neugier und Ehrfurcht, Schrecken und Staunen in Control erzeugen, hervor gerufen durch die Konfrontation mit seltsamen Dingen, die der menschliche Geist weder vollkommen begreifen noch erklären kann, dessen Einfluss er sich aber trotzdem (bzw. gerade deswegen) nicht erwehren kann. Lake und Megill sprechen gerne von einem Gefühl, dass sie aufleben lassen möchten, doch tatsächlich gibt es auch wesentlich greifbarere Elemente, die Controls Verwandtschaft zu VanderMeers Auslöschung belegen.

Bürokultur vs. Paranormalität

Ein wichtiges Puzzleteil im New Weird ist das Alltägliche. Häufig werden die reale Welt und die alltäglichen Aspekte des Settings besonders betont, um das Eindringen der „weirden“ Elemente besser zu kontrastieren. Als Vertreter des Alltäglichen setzen Autoren gerne eine geheime Regierungsbehörde ein. Dies geschieht etwa bei der SCP Foundation, einem Web-Projekt für kollaboratives Schreiben, welches ebenfalls enormen Einfluss auf Control nahm. In Control ist es das Federal Bureau of Control, kurz FBC. Aber auch bei VanderMeers Auslöschung ist eine Behörde vor Ort, ja sogar titelgebend.

Die Southern Reach-Trilogie (zu der Auslöschung zählt) ist nach einer Regierungsbehörde benannt, die sich auf ihre Untersuchungsarbeit in Area X konzentriert, einem verlassenen Teil der USA, der begonnen hat, sich und die Menschen, die sich hineinwagen, auf unerklärliche Weise zu verändern. Wer wissen möchte, wie tief Controls Hommage geht, der schaut am besten in den zweiten Band Autorität rein. Autorität beginnt mit einem Charakter, der wie Jesse der neue Direktor einer untergehenden Behörde wird. Und ganz zufällig lautet dessen Rufname … Na? Richtig: Control („Nein! – Doch! – Oh!“). Beide Geschichten wirken aufgrund ihrer wissenschaftlicher Dokumentation und ihres klinischen Behörden-Tons geerdet, obwohl sie im Herzen paranormale Fiktion sind.

Eine Eigenheit von New Weird ist das Stellen von Fragen und die Beantwortung dieser mit weiteren Fragen (oder Rätseln, wenn man Pech hat). In Control ist es die Forschungsleiterin Emily Pope, die jede Fallakte mit einem Batzen unbeantworteter Fragen abschließt. In Auslöschung ist es die Biologin, die ungezählte Fragen aufwirft und sie nach bestem Gewissen zu beantworten versucht, wobei es sich aber nur um Mutmaßungen handelt. Es ist eine Gratwanderung zwischen zu viel und zu wenig erklären. Und dass die profane, weltliche Bürokratie sich daran versucht, das absurde Paranatürliche zu erfassen, ist selbst absurd.

Absurde Bürokratie zeigt sich in Auslöschung etwa anhand eines Messgeräts, das jeder Expeditionsteilnehmer bekommt. Wenn das Messgerät rot aufleuchtet, haben die Teilnehmer 30 Minuten Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Das schärft man ihnen zumindest ein. Tatsächlich aber ist das Gerät ein reines Placebo. In Area X gibt es per se keine sicheren Orte. Das Gerät soll lediglich die Nerven ruhig stellen. Das zeigt, wie entartet das Firmengetriebe in Southern Reach bereits ist. Die Behörde ist sichtlich überfordert und versucht durch krampfhaftes Festhalten an Empirie (die zu nichts führt) eine Lösung für Area X zu bekommen. Das Menschenmaterial, das dabei verbraten wird, ist unerheblich, deswegen sind ruhigstellende Placebos wichtiger als das Einweihen in relevante Informationen.
Controls Bürokultur ist weit weniger trostlos, da die Behörde durchaus in der Lage ist, die Rätsel zu katalogisieren und die Gefahren zu benennen. Trotz vieler Fragezeichen ist das FBC nicht so hoffnungslos und verzweifelt wie Southern Reach. Zumal das FBC mit Jesse, der omnipotenten Direktorin, eine wahre Trumpfkarte besitzt.

Das Zischen und der Fungus

In Control wird das FBC von einer unbekannten Entität namens „das Zischen“ heimgesucht. Schon bei der Namenswahl für „das Zischen“ beweisen die Entwickler einen ähnlichen Sinn für Klangästhetik wie Alex Garland, der seinerzeit die Grenze zu Area X „den Schimmer“ nannte (bzw. richtiger wäre wohl zu sagen, die Übersetzer beweisen einen ähnlichen Sinn). Und ebenso wie Garland entschied sich auch Remedy für die Benzinfilmoptik, um die fremde Entität darzustellen. Die Zischer erscheinen unter einem roten Spotlight und sterben, indem sie sich in einer Art von nebeligem Regenbogen-Öl auflösen. Ein Regenbogen-Öl das man zuletzt als „den Schimmer“ in Auslöschung gesehen hat.

Neben „dem Zischen“ gibt es in Control noch den Fungus, der anders als die Benzinfilm-Entität greifbar und organisch ist. Der Fungus ist vermutlich das Produkt zweier sich überlappenden Dimensionen und wird im Game als ein Ergebnis inkompatibler Molekülstrukturen beschrieben, wobei die dominante die rezessive überschreibt. Übersetzt heißt das, dass der Fungus alle Lebewesen in seinem Bereich übernimmt, einschließlich der Menschen. Er überzieht sämtliche Bürostrukturen mit organischem Material und macht das Gebäude lebendig. Ähnlich verhält es sich in Autorität, als die Sporen aus Area X das Büro-Gebäude von Southern Reach befallen. Controls denkwürdiger Spruch, als er seine Hand auf die Wand legt: „Die Wand … atmet …“.

Game Director Kasurinen beschreibt das Älteste Haus, den Sitz des FBCs, gerne als lebendigen Körper. Den Einfall des Zischens muss man daher als eine Krankheit verstehen, die versucht, sich zu verbreiten. Dabei übernimmt sie nicht nur, sondern sie korrumpiert und verändert durch und durch. Der Fungus dagegen ist einfach eine zweite Baustelle. Er hat nichts mit dem Zischen gemein und ist eine reine Begleiterscheinung ohne hauptgeschichtliche Relevanz. Trotzdem erinnert gerade der Fungus noch stärker an Auslöschung als das Zischen selbst.

Die Spruchformel des Zischens

Das Zischen wirkt auf jeden Menschen anders. Manche werden zu aggressiven Wirten, andere bleiben in unnatürlichen Posen in der Luft hängend zurück. Dabei brabbeln sie ad infinitum eine repetitive Spruchformel.

In seiner poetischen Rätselhaftigkeit erinnert die Spruchformel an den Sermon aus Auslöschung. Der Sermon dient als Indikator für das Vordringen von Area X. Menschen, die von Area X korrumpiert wurden, beginnen die Worte zu verbreiten (dasselbe passiert in Control).

Die Spruchformel und der Sermon haben beide einen erhabenen und zeremoniellen Ton. Ihre Bedeutung geht nicht klar aus den Worten hervor. Wahrscheinlich ist, dass die Worte keine nennenswerte Bedeutung haben. Nicht der Inhalt ist die Nachricht, sondern die Nachricht selbst. Sie repräsentiert das pestartige Rituals des Vordringens und nichts anderes soll sie vermitteln. Die Worte sind lediglich eine Leitung.

Jesse, die infizierte Protagonistin

In New Weird-Geschichten sind die Figuren häufig besessen und/oder infiziert von ihrer Umgebung. Bei manchen geht das schlecht aus und sie fallen der Umgebung/der Fremdheit komplett anheim und vergessen sich. Bei anderen wiederum findet ein Brückenschlag zum Fremden statt, der trotz anfänglicher Einschränkungen zu einer neuen Art der Freiheit führt. In New Weird-Geschichten ist die Synthese, egal wie furchteinflößend sie scheint, manchmal der einzige Weg, um zu überleben (siehe u.a. VanderMeers Borne). Auch für die Biologin aus Auslöschung gilt diese Regel. Aufgrund individueller Veranlagungen kann sie sich gegen Area X behaupten und schafft es, eine Metamorphose mit ihr einzugehen.

Wie die Biologin ist auch Jesse von der Seltsamkeit des Schauplatzes zunächst entsetzt, kommt aber nicht umhin, ein Verlangen nach dieser Fremde zu verspüren. Jesse ist also besessen vom Ältesten Haus (New Weird: Check). Zudem ist Jesse sogar tatsächlich infiziert (Doppelcheck). Zwar nicht mit dem Zischen, aber mit etwas ähnlichem. Das birgt den Vorteil, dass Jesse gegen das Zischen immun ist. Jesse ist also bereits eine Metamorphose eingegangen, durch die sie überleben kann.
Sowohl in Auslöschung als auch bei Control ist die Identität kein festes, starres Ding. Identität im herkömmlichen Sinne gibt es nicht. Im New Weird hat die Identität immer verschiedene Aggregatzustände. Meistens ist sie flüssig und wandelbar und anfällig für äußere Einflüsse. Doch hat sie erst einmal unter Einfluss des Fremden ihre neuartige, progressive Struktur entwickelt, dann ist sie widerstandsfähig und kann bestehen.

Schlusswort

New Weird soll vertraut, beunruhigend, faszinierend und anregend sein – einfach alles zusammen. So, wie wenn man nach einer Operation vom Arzt Fotos seiner inneren Organen als Special Gimmick in die Hand gedrückt bekommt und man zunächst nur entsetzt darauf starren kann. Es gibt andere Games, wie das erwähnte BioShock oder Dishonored, die einige Elemente des unbehaglichen New Weird beinhalten, doch Control verfügt über eine direkte, unleugbare Verbindung zu diesem Genre im Allgemeinen und zu Southern Reach im Speziellen. Dadurch erlangt das Game seinen einzigartigen weirden Tonus.

© 505 Games, Paramount Home Entertainment, Universal Pictures


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Totman Gehend

Totman ist Musiker, zockt in der Freizeit bevorzugt Indie-Games, Taktik-Shooter oder ganz was anderes und sammelt schöne Bücher. Größtes Laster: Red Bull. Lieblingsplatz im Netz: der 24/7 Music-Stream von Cryo Chamber auf YouTube.

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