Control

In Zeiten wie diesen brauchen wir alles an Eskapismus, was nur möglich ist, und genau das liefert Control, das neuste Spiel des finnischen Entwicklerstudios Remedy (zu Deutsch: Abhilfe. Passend, eh?). Es ist eine beinahe perfekt konzipierte paranormale Shooter-Fantasie, die auf völlig absurden Prämissen aufbaut. Als Direktorin des Federal Bureau of Control versuchen wir, die Kontrolle über eine invasive, fremde Entität zu erlangen. Dem geneigten Spieler bleibt da nichts anderes übrig als seinen Geist zu befreien, sich dem Wahnsinn hinzugeben und keinen Korridor für bare Münze zu nehmen. Seit dem 27. August 2020 ist die Control Ultimate Edition, die auch sämtliche Erweiterungen beinhaltet, auf Steam erhältlich. Die Versionen für PlayStation 4 und Xbox One folgen zwei Monate später.

   

New York – Heimat des One World Trade Centers und des Empire State Buildings. Unübersehbare Größen in der Skyline. Anders verhält es sich mit dem Sitz des Federal Bureau of Control, einer Behörde für paranatürliche Vorkommnisse. Obwohl das Gebäude noch riesenhafter ausfällt, ist es für den normalen Bürger kaum wahrnehmbar. Jesse Faden jedoch gelingt es nach langer Suche, den Komplex zu finden und zu betreten. Sie hat einige Fragen auf dem Herzen, die ihr nur der Direktor beantworten kann. Doch die Behörde scheint menschenleer. Bis auf den mysteriösen Hausmeister Ahti trifft sie niemanden an. Und als sie den Direktor schließlich erreicht, begeht dieser gerade Selbstmord. Als Jesse die Handfeuerwaffe des Toten an sich nimmt, durchlebt sie ungewollt einen Excalibur-Moment und wird zur neuen Direktorin berufen. Allmählich erkennt sie, dass die Behörde von einer seltsamen Entität namens „Das Zischen“ heimgesucht wird. Es liegt nun an Jesse, die Behörde davon zu befreien – und nebenbei die Welt zu retten.

Behörden-Metroidvania

Originaltitel Control
Jahr 2019
Plattform PlayStation 4, Xbox One, PlayStation 5, Xbox Series X, Microsoft Windows
Genre Action-Adventure, Third-Person-Shooter
Entwickler Remedy Entertainment
Publisher 505 Games
Spieler 1
USK
Veröffentlichung: 26. August 2020 (PC), 20. Oktober 2020 (PlayStation 4, Xbox One)

Als neu berufene Direktorin macht sich Jesse auf die Suche nach ihrer irgendwo in der Behörde verschollenen Führungsriege. Ihr Weg führt sie durch einen labyrinthisch angeordneten, aber immer korrekt ausgeschilderten Bürokomplex. Control ist im Grunde seines Herzens ein Metroidvania-Titel. Die Behörde präsentiert sich als eine riesige zusammenhängende Umgebung, die begrenzt wird durch Hürden, welche wir erst mit neuen Fähigkeiten oder einer höheren Sicherheitsstufe überwinden können. Insgesamt ist die Welt also semi-offen und es steht uns frei, der Hauptgeschichte zu folgen oder erst den Nebenmissionen nachzugehen. Dabei handelt es sich aber nicht um solche „Sammle 30 purpurne Nirnwurz in einer Höhle so groß wie ‘ne Kleinstadt“-Quests, sondern wirklich um kleine Nebengeschichten mit individuellem Aufhänger, die manchmal sogar einen Miniboss bereithalten. Für den Hausmeister mit seinen Pflanzen sprechen, einen Mann davon befreien, den Kühlschrank anzustarren, oder ausgerissene paranatürliche Objekte einfangen – alles ist möglich in der Behörde.

Trügerischer Büroalltag

Während wir uns durch die geisterhafte Behörde bewegen, gibt es in jedem Sektor unheimlich viel zu entdecken, denn Control verfügt über eine verschwenderische Lore. Es gibt etliche Textdokumente zu lesen, von privatem Schriftverkehr bis hin zu Fallakten über paranatürliche Objekte. Videoaufzeichnungen mit realen Schauspielern erklären uns die gängigsten Begriffe und über Tonbandaufnahmen nehmen wir u.a. an vergangenen Expeditionen in die Grenzbereiche teil. In Control könnte man stundenlang herumlaufen und sich einfach nur die Boards, Pinnwände und Tischdeko angucken. Es ist diese Mixtur aus Büroästhetik und Unerklärlichem, die den Reiz von Controls Atmosphäre ausmachen. Die größte Abstrusität dabei ist die unsichtbare Bedrohung durch „das Zischen“, von dem man nicht genau weiß, was es eigentlich ist. Es scheint in Relation mit unserer Welt zu stehen, verzerrt sie aber. Das Zischen kann einen Effekt auf die Umgebung haben und die Architektur verändern, es beeinflusst aber auch die Menschen. Manche befällt es und macht es zu Wirten, andere lässt es seltsam in der Luft hängend und sinnlose Textphrasen blubbernd zurück.

Die Optik: Schwindelerregend und halluzinatorisch

Man mag es nicht für möglich halten, aber obgleich wir die Behörde so gut wie nie verlassen, schafft es Control durchgängig Abwechslung zu bieten. Die Leveldesigner schufen viele einzigartige Orte, die manchmal aufgrund ihrer brutalistischen Weitläufigkeit, manchmal aufgrund ihres Überangebots an Details echte Blickfänge sind. Die riesigen Lagerhallen für die größten alle paranatürlichen Objekte sind so ehrfurchtgebietend eingerichtet, das man nur demütig davor bzw. darin stehen kann. Den visuellen Vogel schießt Control aber mit dem „Aschenbecher-Labyrinth“ ab. Hier ballert man sich zur Mucke des Hausmeisters („Take Control“ von den Old Gods of Asgard) durch eine sich ständig wandelnde Umgebung. Physikalische Gesetze sucht man hier vergebens. Ein echtes Highlight im Game.

Ballerballett mit Jedi-Getue

Wo wir gerade beim Ballern sind: Ballern ist natürlich der Schwerpunkt, denn Control ist immer noch ein Third-Person-Shooter und macht als solcher richtig Spaß. Jesse ist im Besitz der „Amtswaffe“, einer paranatürlichen Pistole, die man späterhin upgraden kann. Auf diese Weise wird sie zur MP, Schrotflinte etc. Weiterhin muss man keine Munition sammeln. Hat man seine Mumpeln verballert, muss man nur kurz warten und sie lädt von selbst wieder nach. Daneben verfügt Jesse über telekinetische Fähigkeiten. Wir können über das Schlachtfeld schweben, SÄMTLICHE Gegenstände der Umgebung auf die Gegner prasseln lassen, die Gegner mental dominieren und noch etliche Dinge mehr. Dabei ist die Tastenverteilung so geschickt (theoretisch könnte man alles per Maus machen), dass sich das Kämpfen einfach mega smooth anfühlt, nahezu tänzerisch – es wird nie langweilig. Und weil’s so einen Spaß macht, haben die Macher von Control in den DLCs nette Just for Fun-Kampfmodi eingebaut: Die Jukebox-Expeditionen und die Shüm-Arcades. Hier kann man sich noch einmal richtig austoben.

Das Ende und die DLCs

Jetzt der Wermutstropfen: Controls Ende ist als solches nicht spürbar. Vielmehr wird man nach überstandenem Klimax einfach wieder in die Behörde entlassen, um weiter seiner Arbeit nachzugehen. Der ärgste Feind ist nicht besiegt und die drängendsten Fragen werden nicht beantwortet: Wo ist die Sicherheitschefin? Was ist eigentlich mit dem Hausmeister los? Wo steckt der Gestalter? Man wird unverrichteter Dinge zurückgelassen und es schreit im Grunde nach einer Fortsetzung. Die bekommt man gewissermaßen geliefert mit der ersten DLC Das Fundament. Hier werden zumindest die offenen Fragen in Sachen Personal beigelegt, ist also Pflicht. Die zweite DLC AWE ist ein Crossover mit einem älteren Game von Remedy: Alan Wake. Der Panopticon Supervisor Langston hat hier einen kleinen Gastauftritt und es gibt einen komplett neuen Sektor samt neuer AWEs zu entdecken, ist aber sonst ziemlich losgelöst von der Hauptgeschichte zu betrachten. Für Steam-Nutzer sind beide Erweiterungen in der Complete Edition enthalten.

Ein Sammelsurium der Inspirationen

Control vereint viele Aspekte, die einem Sci-Fi-Spezi eventuell bekannt vorkommen könnten. Der Fokus liegt auf einer Behörde, die von einer fremden Macht beeinflusst wird. Mitarbeiter driften in den Wahnsinn ab, während man zwischen Schichtbeton und Aktenbergen versucht der Gefahr Herr zu werden (für Fans von Jeff VanderMeers Auslöschung bzw. Autorität). Dabei bewegt sich die Figur durch einen riesigen Bürokomplex, der mit seiner Kombination aus brutalistischer Architektur, innerräumlicher Weite und unbehaglichen Synthiesounds allzu stark an INSIDE erinnert. Durch verstreute Tonbandgeräte wird die Geschichte auditiv an den Spieler heran getragen (BioShock). u. a. wird darin von den „Objekten der Macht“ erzählt, deren heilig anmutenden Funktionen an „die Artefakte“ aus Donnie Darko erinnern. Zu guter Letzt kommuniziert man mit einem ominösen Rat, dessen Sprache nur mehrdeutig übersetzt werden kann. Das unterstreicht, wie haarig die Übersetzung einer nicht-irdischen Sprache sein kann (Heyho, Fans von Arrival). Man könnte also sagen: Control vereint das Best Of der anspruchsvollen Sci-Fi.

Fazit

Control begeistert und enttäuscht mich. Enttäuscht bin ich wegen des Endes, welches keines ist. Man steckt noch mittendrin in der Materie, unverrichteter Dinge, und trotzdem ist Schluss. Als warte die Behörde darauf, dass neue Arbeit auf den Tisch kommt. Zugegeben: So unwahrscheinlich ist das vielleicht nicht. Der Homepage von Remedy ist aktuell zu entnehmen (Abruf 09. September 2020), dass sie eine/n Senior Development Manager zur Erweiterung des Control-Franchises suchen. Man darf gespannt sein. Vom nicht vorhandenen Ende einmal abgesehen bin ich aber wie gesagt schwer begeistert. Control punktet mit seiner wirklich wunderschön aussehenden Bürowelt (paradox, eh?), der ausgefeilten Lore, seinem „Heidewitzka, was ein Spaß“-Kampfsystem und dieser einnehmenden Atmosphäre, die irgendwo zwischen Profanität, Grusel und Abstrusität liegt. Und das Allerallerallerbeste: die Physics! So etwas habe ich noch nicht erlebt. Wenn ich in einem Shooter unterwegs bin, mach ich immer den Toilettentest um die Zerstörbarkeit der Umgebung zu prüfen. Was soll ich sagen … ich denke Control hat gewonnen (s.o.).

© 505 Games


Ab 25. Oktober 2020 im Handel erhältlich:

Totman Gehend

Totman ist Musiker, zockt in der Freizeit bevorzugt Indie-Games, Taktik-Shooter oder ganz was anderes und sammelt schöne Bücher. Größtes Laster: Red Bull. Lieblingsplatz im Netz: der 24/7 Music-Stream von Cryo Chamber auf YouTube.

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