Violet Evergarden: Automemories

Nicht-japanische Komponisten sind bei Anime-Produktionen immer noch eine kleine Seltenheit. Bei Tekkonkinkreet zog man das britische Electronica-Duo Plaid heran und für Made in Abyss holte man den Australier Kevin Penkin ins Boot. Bei Violet Evergarden nun durfte der Kalifornier Evan Call ran, dessen musikalische Aktivität bislang allein auf das Anime-Metier beschränkt blieb (Tokyo ESP, Schwarzesmarken). Wer seine Epic-Electro-Mucke zu Schwarzesmarken kennt, der wird überrascht sein, dass Call auch ganz andere Saiten aufziehen kann: Extra für Violet lässt er das Europa des frühen 20. Jahrhunderts aufleben – leicht romantisch, sehr impressionistisch und vor allem: modern.

Der Soundtrack für Violet Evergarden trägt den Namen Automemories, umfasst 100 Minuten Musik und wurde vom Label Lantis am 28. März 2018 als Doppelalbum veröffentlicht. Er beinhaltet sowohl den kompletten Score als auch die Kurzversionen von OP und ED. Das Orchester wurde dirigiert von Shinsuke Tajiri, dessen letzter und bis dato einziger Berührungspunkt mit der Anime-Szene das Valentin Concert von Yugo Kanno (Psycho Pass, Ajin) im Jahre 2016 war. Evan Call dagegen bewegt sich seit 2013 in besagter Szene und wurde für Violet Evergarden nicht nur zum Komponisten, sondern auch zum Performer – wirft man einen Blick in die VGMdb, ist anzunehmen, dass Call u.a. sämtliches Schlagwerk eingespielt hat.

Kyoto Animation und Evan Call: Eye-Porn meets Ear-Porn

Schmeißt man als geneigter Hörer die erste CD ein, dann erwartet einen zuallererst das Hauptthema. „Theme of Violet Evergarden“ vereint im Grunde alle relevanten Eigenschaften der Protagonistin. Der hauchende Frauenchor für die Puppe, die sie ist. Die Tippgeräusche auf der Schreibmaschine für die AKORA, die sie ist (die Schreibmaschine als Instrument einzusetzen ist nicht neu und wurde von Dario Marianelli bereits in Atoment angewandt – soundtechnisch sogar ein bisschen spannender). Die rhythmisierten Streicher für die unbekannte Kraft, die Violet an ihr fernes Ziel treibt (ganz poetisch). Und zu guter Letzt: Die elektrische Gitarre. Denn Violet ist nicht nur eine puppige Tippse, sondern auch eine kriegserprobte Kampfsau.

Diese rhythmisierten Streicher, die im Thema und auch noch vereinzelt woanders auftauchen, sind das einzige Zugeständnis, das Call dem heutigen Mainstream-Trend in der Filmmusik macht. Er verzichtet komplett auf die angesagten Harmonie-Loops, mit Taiko-Drums vermischten Power Anthems und generischen Klangflächen. Stattdessen tobt sich Call eineinhalb Stunden lang mit verspielten Arrangements und vergessenen Instrumentengruppen aus (Holzbläser, die Solo haben… wo gibt’s das heute noch?) und haut dabei so viele musikalische Themen raus, dass man meinen könnte, er hätte für das Konzerthaus geschrieben und nicht fürs popelige Fernsehen, wo eh keiner zuhört.
Dadurch, dass die Musik so gehaltvoll geraten ist und bereits alleine eine Geschichte zu erzählen vermag, und dadurch, dass sie eben nicht generisch vor sich hin wabert und lediglich Emotionen adaptiert, kann die Musik durchaus sehr präsent wirken – wie ein eigener kleiner Star, der dem Bild zuweilen die Show stiehlt, selbst wenn das Bild vom berühmten Kyoto Animation-Studio stammt. Wer nur Klangflächen gewohnt ist, dem drängt sich die Musik von Evan Call vielleicht zu sehr auf – sowas soll’s geben.

Track im Fokus I „A Simple Mission“

Ein Vertreter der verspielten Arrangements ist „A Simple Mission“. Hier wechseln sich die Instrumente fluffig und schnell in ihrem Spiel ab – so, als würden sie sich eine heiße Kartoffel zuwerfen. Dabei verzahnen sich die Einsätze des Einzelnen immer akkurat mit dem des Vorgängers und Nachfolgers. Erstmalig angewendet wird der Track in Folge 1, als Benedict den Neuzugang Violet in die Postarbeit einweist. Benedict, hitzköpfig und leicht angenervt trifft auf die unbedarfte und eigentümliche Violet – eine Zusammenführung, die natürlich Missverständnisse und humoristische Momente hervorbringt. Evan Call überträgt das auf die Musik, indem er auch im Orchester die unterschiedlichsten Gemüter aufeinander treffen lässt; verschiedene Instrumente, die sich frech umkreisen und versuchen, das Heiße Kartoffel-Spiel zu gewinnen.
Die Stücke werden natürlich wieder verwertet. „A Simple Mission“ ist oft dann zu hören, wenn Arbeit ansteht oder kontrastreiche Personen aufeinandertreffen (z.B. Episode 6: Einweisung in die Bibliotheksarbeit und die Begegnung zwischen Violet und dem anti-eingestellten Leon).

Track im Fokus II „Ink to Paper“

„Ink to Paper“ ist ein Titel, in dem musikalisch der Prozess einer Schöpfung beschrieben wird. Ganz wie der Titel es andeutet: Gedanken werden zu Papier gebracht, ein Brief entsteht. Es beginnt zart und abwartend mit einer einfachen Harfe und baut sich weiter auf, indem mehr und mehr Zutaten dazu kommen. Dazu passend steht der Titel in E Dorisch. „Dorisch“ bezeichnet einen der vielen Modi (oder auch Tonarten), in denen ein Stück stehen kann. Der dorische Modus leitet dabei oft zu etwas hin, hat also einen strebenden Charakter (wie auch unser Brief zur Vollendung strebt). Schon bei den alten Griechen galt der dorische Modus als jener Modus, der Moral und Tatendrang beim Volk stärkte.

Ab 01‘26‘‘ erreicht die Entstehung des Briefes allmählich seinen Höhepunkt, angekündigt durch ein sich wiederholendes, stets aufsteigendes Harmoniepattern, in denen sich Streicher, Klavier und Klarinette umkreisen und ein sybillinischer Frauenchor gen Himmel strebt – Destination unbekannt. Der Track endet ungewohnt abrupt, geradezu leise und unaufgeregt. Der Prozess ist beendet; auf einmal existiert der Brief, einfach so. Die Entstehung war magisch und aufregend, mit dem Ende aber verpufft alles als wenn nie was gewesen wäre. Der Weg ist immer spannender als das erreichte Ziel, huh?

Track im Fokus III „Strangeling“

Es gibt viele solcher kleinen, mystischen Perlenmomente. So auch bei „Strangeling“. Hier beginnt die Cellesta mit einer leicht skeptischen und irgendwie fragenden Melodiephrase, abgelöst von einer Klarinette, die ebenfalls die Augenbrauen hochzuziehen scheint. Diese Musik findet ihren Einsatz, als Violet das erste Mal die Handschuhe überzieht und damit einen Teil ihrer Natur kaschiert – sie schaut auf ihre Hände, als würde sie sich nicht wieder erkennen. Die Awkward-Momente brechen nicht ab: Als die Evergardens Violet zu ihrem Adoptivkind machen wollen, wird’s langsam peinlich, verdeutlicht durch das torkelnde Duo zwischen Bratsche und Posaune (01’10”) – die Posaune glissandiert dabei so übertrieben als wäre sie stockbesoffen.

Ein bisschen Klischee muss sein

Natürlich ist mit „Across the Violet Sky“ auch das obligatorische „Ganbatte! Ich werde die Welt verändern!“-Stück dabei sowie das virtuose und in Japan nicht wegzudenkende Piano-Solo, in dem das Hauptthema noch einmal mit mächtigen, breit gegriffenen Akkorden verwurstet wird („Adamantine Dreams“). Und da die zweite Hälfte der Serie vermehrt auf die Tränendrüse drückt, ist auch die weinerliche Solo-Violine mit ganz viel Vibrato nicht weit entfernt („The Ultimate Price“ und „Inconsolable“). Allerdings fällt sie in der Szene ihrer Verwendung (Episode 10, die kleine Ann heult als wenn’s keinen Morgen gäbe) eher negativ auf, da es dann doch ziemlich aufgesetzt wirkt.

Kein Mann fürs Grobe

Auffällig ist, dass auf den ganzen zwei CDs mit „The Storm“ nur ein einziger Action-Titel vertreten ist – obgleich das Militär ein omnipräsentes Thema in der Serie darstellt. Der Schwerpunkt der Serie liegt also auf dem Drama und *~dem Menschen~* – selbst im Schlachtgetümmel. Symbolisch dafür die Kampfszene in Episode 1: Violet prescht voraus und nietet alle um, findet aber dennoch die Zeit, sich umzudrehen und emotional zum Major zurück zu blicken, samt Close Up ihrer Augen.

Evan Call überträgt diese Priorität auch auf die Musik: Kämpfe werden entweder gar nicht vertont (vermutlich um den Realismus zu wahren und einer ungewollten Heroisierung o.ä. entgegen zu wirken) oder aber lediglich mit einem Stück für Streichquartett unterlegt, das zudem den Titel „Torment“ (=Qual) trägt.
Dass Call auf stumpfe Action-Musik verzichtet hat, ist vielleicht auch dahingehend ganz gut, da dieses Genre nicht sein Metier zu sein scheint. „The Storm“ zumindest fällt stark ab im Vergleich zu seiner restlichen Musik. Es ist nicht sonderlich spannend komponiert, zudem schlecht abgemischt (wirklich sehr bassig) und dazu noch seltsam abgenommen: Das Orchester klingt widernatürlich verstärkt, als käme es aus der Dose.

Von dem “Storm aus der Dose” mal abgesehen, ist die Aufnahmequalität stets sehr hoch und der Klang vielfältig – vom imposanten und bassigen Orchester bis hin zur kleinen, sibyllinischen Kammerbesetzung ist alles dabei. Call bedient sich des gesamten Orchesterapparates und bezieht auch so extravagante Instrumente wie Vibraphon und Cellesta, Crotales, Zither, Klavier, Fidel, irische Tin Whistle und ebenso irische Bodhrán mit ein. So viel Herzblut, so viel Liebe zum Detail, so viel Qualität, so viel Klangvielfalt, so viel musikalischer Output – selten gehört bei einem Anime OST.

Totman Gehend

Totman ist Musiker, zockt in der Freizeit bevorzugt Indie-Games, Taktik-Shooter oder ganz was anderes und sammelt schöne Bücher. Größtes Laster: Red Bull. Lieblingsplatz im Netz: der 24/7 Music-Stream von Cryo Chamber auf YouTube.

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