Time to Hunt

Südkorea – ein hippes Reiseland. Tigerstaat, aufstrebende, kleine Industrienation. Gut Essen, Shoppen, K-Pop. Coole Großstadt-Architektur. Was, wenn damit plötzlich Schluss wäre? Was, wenn der wirtschaftliche Höheflug ein jähes Ende fände und nur Armut, Müll und Verfall zurückließe? In Time to Hunt spielt der Regisseur Yoon Sung-hyun (Bleak Night) dieses verstörende Gedankenspiel mit den Mitteln des Gangsterfilms durch. Der Film feierte seine deutsche Premiere auf der Berlinale 2020.

   

Drei Jahre war Jun-seok (Lee Je-hoon) im Knast und in dieser Zeit hat sich seine Welt radikal verändert. In Südkorea ist die Wirtschaft zusammengebrochen, die Inflation galoppiert, seine eben noch blühende Heimatstadt ist zu einem verlassenen Slum voller Verfall und Dreck geworden. Auch das Geld aus dem letzten Coup, das seine Kumpels aufbewahren sollten, ist futsch, denn nur US-Dollars haben noch Wert. Und dabei hat er doch einen Traum: ein Leben am Strand eines smaragdgrünen Meers. Wie in Taiwan, wo ein Knastkumpel was für ihn arrangieren könnte. Gegen angemessene Bezahlung natürlich. Also muss harte Währung her. Die hat in diesen düsteren Zeiten nur das organisierte Verbrechen. Etwa die Einnahmen des illegalen Spielcasinos, wo ein weiterer Kumpel von früher arbeitet. Dank Jun-seoks hilfreichen Knastkontakten schwer bewaffnet, planen die Jungs einen blitzschnellen Überfall: rein, Safe leeren, raus, Festplatte der Überwachungskamera nicht vergessen. Da die Jungs längst nicht so erfahren sind, wie sie gerne annehmen, wird die Umsetzung der Theorie schon beim Rückzug recht holprig. Immerhin, sie haben das Geld und die Festplatte. Wer konnte auch ahnen, dass auf der Festplatte nicht nur die Aufzeichnungen der Kameras abgespeichert sind, sondern auch hochbrisantes Beweismaterial, das das Zusammenspiel von Politik und Mafia dokumentiert? Ab jetzt ist die Jagd auf sie eröffnet …

Dystopische Visionen ganz nah an der Gegenwart

Originaltitel Sa-nyang-eui-si-gan
Jahr 2020
Land Korea
Genre Thriller, Dystopie
Regie Yoon Sung-hyun
Cast Jun-seok: Lee Je-hoon
Jang-ho: Ahn Jae-hong
Ki-hoon: Choi Woo-shik
Sang-soo: Park Jeong-min
Han:Park Hae-soo
Laufzeit 134 Minuten
FSK keine Angabe

Yoon Sung-hyuns Dystopie-Korea liegt nicht weit in der Zukunft. Auf den ersten Blick könnte die kaputte Welt der drei jungen Möchtegern-Verbrecher in einem heruntergekommenen Stadtteil jeglicher asiatischen Großstadt von heute angesiedelt sein. Wenn die Autos und die Handys nicht einen Hauch futuristischer wäre als ihre heutigen Gegenstücke. Und der Film nicht nahelegen würde, dass das ganze Land so aussieht. Nur ab und zu sieht man am Horizont noch Hochhaustürme glitzern. In den Straßen sieht man nur geschlossene Läden, Verwüstung, Graffiti, Obdachlose. Demonstranten protestieren ohnmächtig gegen den Verlust ihrer Arbeitsplätze und die unbarmherzige internationale Finanzpolitik. Eine Kameraeinstellung fasst die Situation in wenigen Sekunden zusammen: Die drei Jungs fahren auf der Stadtautobahn durch unwirtliche Stadtlandschaften. Aus einem Parkhaus neben der Autobahnbrücke blitzt und knallt es: eine Schießerei. Aber die Kamera folgt den Jungs, die ungerührt weiterfahren. Nichts Besonderes im Seoul von Time to Hunt.

“Ein ganz einfacher Film”

So kündigte Regisseur Yoon Sung-hyun auf der Berlinale bescheiden-kokett seinen Film an. Recht hat er. Je länger man der Handlung folgt, desto geradliniger wird sie. Die düstere Zukunftsvision wird bald nur zur Kulisse, deren Verfallslandschaften, dramatisch in Primärfarben ausgeleuchtet, einen tadellosen Hintergrund für Gangsterposen und Verfolgungsjagden abgeben. Selbst der Gangster-Plot, der erst eine Menge Zeit und Detailfülle bekommt, wird stetig abgespeckt. Die ominöse Festplatte mit den brisanten Daten hätte für kompliziertere Wendungen sorgen und die Informationen darauf eine Menge über diese kaputte Welt erzählen können. Pustekuchen. Die Festplatte ist zwar Auslöser der weiteren Geschehnisse, jedoch ganz schnell völlig unwichtig geworden. Denn dann geht es nur noch um die Jagd.

Jäger und Gejagte

Der Killer, der auf die jungen Möchtegern-Tresorknacker angesetzt wird, heißt Han und er beherrscht die Kunst, aus dem Dunkel aufzutauchen und sich diabolisch eine Zigarette anzustecken. Er verfolgt die Jungs wie der Terminator, unerbittlich, unaufhaltbar, unkaputtbar. Er jagt sie durch Parkhäuser und Krankenhausflure, verlassene Wohnblöcke und nächtliche Hafenanlagen wie durch Counterstrike-Kulissen. Manchmal lässt er sie auch wieder laufen, es wäre doch zu schade, wenn der Spaß schon ein Ende hätte. Aber er findet sie immer, egal, wohin sie fliehen. Das könnte daran liegen, dass diese Anfänger ihre Handys nicht weggeworfen haben. Und trotz all ihrer Waffen Nahkampf einfach nicht gut können und so leichte Beute für einen erfahrenen Verfolger sind. Oder daran, dass seine Fähigkeiten fast Superkräften nahekommen, die mit der ganz normalen Welt des tagtäglichen Verbrechens schon kaum mehr etwas zu tun haben. Jun-seok und seinen Freunden bleibt jedenfalls nichts als Rennen, Verstecken und ein paar dramatisch hochgebürstete zwischenmenschliche Momente, bis die Jagd an einem giftig-orange ausgeleuchteten Hafenkai ihr Finale erreicht.

Fazit

Time to Hunt bietet solides, geradliniges Action-Kino mit unverbrauchten Gesichtern und coolen Bildern, die die Ästhetik des Verfalls mit farbigem Licht und tiefen Schatten Film Noir-artig in Szene setzen. Der kleine Hüpfer in die nahe Zukunft gibt dem gängigen Plot eine kleine Prise Verfremdung mit, ohne dass das Science-Fiction-Szenario zu sehr von den wesentlichen Dingen ablenkt: nämlich mit Schusswaffen durch Gebäude zu rennen und aufeinander zu schießen. Was in der Tat etwas ganz Einfaches ist, aber gerade das erfordert präzises Handwerk. Bei so einem Film würde man ein ganz klares, einfaches Ende erwarten. Etwa: großer Kampf – alle tot. Doch der Film lässt eine sperrangelweite Tür für eine Fortsetzung offen. Ich bin gespannt.

© Little Big Pictures

wasabi

wasabi wohnt in einer Tube im Kühlschrank und kommt selten heraus.

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