Freaks Out
Hereinspaziert, hereinspaziert! Wer will nochmal, wer hat noch nicht?! Wieder einmal öffnen sich Vorhang und Manege, um ihnen alles zu bieten, was man von einem anständigen Zirkus erwartet: ein sechsfingriger Piano-Nazi, ein masturbierender Miniatur-Magneto, ein aufdringlicher Albino mit Schwarmbewusstsein und selbstverständlich eine Armee invalider von Quasi-Qasimodo angeführte Guerilla-Kämpfer. Tretet heran! Tretet heran! Kommen Sie für das Verrücktklingende, bleiben Sie für liebenswerte Figuren, tolle Ideen und erstaunliche Emotionen! Die Truppe Freaks Out rundum Zirkus-Direktor/Regisseur Gabriele Mainetti ist dereinst 2021 zum ersten Mal auf dem Filmfestival in Venedig aufgetreten, hat sich auch auf dem Fantasy Filmfest 2022 herumgetummelt und erfreut sich im Juni 2023 einer Veröffentlichung auf glänzenden Blu-ray- und DVD-Scheiben (Popcorn nicht inklusive). Wer bisher noch nichts von dem etwas anderen ‘Superheldenfilm’ gehört oder gesehen hat, bekommt damit jetzt die Gelegenheit, sich die illustre Truppe ins eigene Wohnzimmer zu holen. Bitte aber zur eigenen Sicherheit nur metaphorisch verstehen, denn die teils ruppigen Rabauken haben mehr als nur Haare auf den Zähnen und lassen es auch mal ordentlich krachen. Ein reiner Hirnaus-Spaß für Groß und Größer? Nicht ganz, gleichwohl aber sicherlich eine Eintrittskarte wert.
Wenn eine Geschichte im Jahr 1943 angesiedelt ist, ahnt man schon, wer bald im Gleichmarsch um die Ecke trampelt. Dabei schnürt die Nazi-Invasion in Rom nicht nur den Einwohnern die Kehlen enger, sondern verbreitet insbesondere bei einer speziellen Zirkustruppe Untergangsstimmung. Maßgeblich und offensichtlich gerechtfertigter Weise bei dem Direktor und Ziehvater der Akteure: Israel (Giorgio Tirabassi). Flucht statt jonglieren steht entsprechend auf dem Programm, aber obwohl der fingerfertige und bärtige Anführer des Trüppchens schon einen Schmuggler im Auge hat, der sie außer Landes bringen kann, müssen Cencio (Pietro Castellitto), Mario (Giancarlo Martini), Fulvio (Claudio Santamaria) und Matilde (Aurora Giovinazzo) bald feststellen, dass der Part der Aufführung wohl gestrichen ist. Von Israel fehlt bald jede Spur. Was so oder so ungünstig wäre, verschlimmert sich durch den Umstand, dass die Zirkuskünstler nicht einfach in übergroßen Schuhen herumstolpern oder Benzin gurgelnd Feuer spucken. Der mental angeschlagene Clown Mario ist ein menschlicher Magnet, Fulvio cosplayt Chewbacca, bevor es ihn geschichtlich überhaupt gab, Cencio befehligt einen Insektenschwarm und Matilde liefert im wahrsten Sinne des Wortes elektrisierende Darbietungen. Während sie einerseits mit diesem Anderssein auf ganz eigene Weise zu kämpfen haben und mit der Ablehnung, die ihnen dadurch entgegen schlägt, müssen sie sich gleichzeitig bei der Suche nach ihrer verlorenen Vaterfigur mit einem Vertreter des Regimes herumschlagen, der mehr als nur eine gesunde Neugier für Menschen wie sie hegt und der definitiv kein ‘Nein, danke!’ akzeptiert.
Marvel mal anders?
Originaltitel | Freaks Out |
Jahr | 2021 |
Land | Italien, Belgien |
Genre | Fantasy, Action |
Regie | Gabriele Mainetti |
Cast | Matilde: Aurora Giovinazzo Fulvio: Claudio Santamaria Cencio: Pietro Castellitto Mario: Giancarlo Martini Franz: Franz Rogowski Israel: Giorgio Tirabassi |
Laufzeit | 136 Minuten |
FSK | |
Veröffentlichung: 23. Juni 2023 |
Freaks Out wird gerne als ‘spezieller Superheldenfilm’ umschrieben, was nicht gänzlich falsch ist, aber auch falsche Erwartungen wecken kann. Es wirkt eher, als wären Tarantinos Inglorious Basterds in Pans Labyrinth einmarschiert, nur mit deutlich weniger Augen haltenden Monstern und ausschließlich authentischen italienischen Akzenten. Zwar haben die verschrobenen Schausteller von Israels Zirkus allesamt mehr als nur ein paar Tricks auf Lager, aber es geht nicht darum, zu erkunden, woher ihre Kräfte stammen, wie sie sie am besten nutzen können und warum ein Tarnname verbunden mit einem möglichst bunten und engen Kostüm eine phantastische Idee wäre, wobei sie zumindest für letzteres als Schaustellertruppe eine verflixt gute Ausrede hätten. Es geht auch nicht darum, dabei zuzusehen, wie sie zu einer Anti-Nazi-Task-Force werden, die mit Krawall und Käferkolonnen in Deutschland einmarschiert, um einen gewissen Führer mit Sahnetorten zu bewerfen. Der Film trifft überwiegend leisere Töne. Was nicht heißen soll, dass es gar nicht um die Kräfte oder deren Zurschaustellung geht; Matildes ganzer Charakter ist um das Zurechtkommen mit ihren Kräften angelegt, was letztlich zu einer recht eindrucksvollen Entladung führt. Wortwörtlich. Worum geht es denn aber nun? Im Kern vielmehr um Menschen, die versuchen mit dem Anderssein zurechtzukommen, sich irgendwie einfinden müssen und dabei von einem sechsfingrigen Nazi gestört werden, der sie als Wunderwaffe für das Reich sieht. ‘Überwiegend’ leisere Töne. Nicht ‘nur’ leise Töne.
Ein wahrhaft bunter Zirkus …
Wo wir schon bei mehr-als-erforderlich-gliedrigen Antagonisten sind. Franz (Franz Rogowski, Luzifer) vereinigt als Figur viele Eigentümlichkeiten des Films und worauf man sich einzustellen hat. Auf der einen Seite besteht kein Zweifel seines Antagonistentums, denn bei seiner Jagd auf besagte Wunderwaffe oder Wunderwaffen geht er nicht nur metaphorisch über Leichen. Gleichzeitig ist er aber nicht schlicht der grundböse Experimentvollführer mit Hang zum Wutausbruch, denn er sitzt faktisch im selben Boot wie die Protagonistenriege. Er wird von Zukunftsvisionen geplagt, die für einen Anhänger Nazi-Deutschlands verständlicherweise eher mäßig rosig aussehen, und zwar machen ihn seine sechs Fingerchen zu einem begnadeten Pianisten, aber eigentlich träumt er vom großen Sieg auf dem Schlachtfeld. Essentiell will er auch akzeptiert werden. Klingt schmalzig, aber die Geschichte schafft es immer wieder, seltsam erfolgreich emotionale Punkte zu setzen, die hier auch definitiv von dem sehr involvierten Schauspiel vonmRogowski unterstützt werden. Es braucht besondere Leute, um auf Tiger-Urin auszurutschen und trotzdem danach noch ernstgenommen zu werden. Wie anklingt, ist es ein wildes Hin- und Her mit der Figur und das durchzieht den gesamten Film. Humor, der fast an Slapstick heranreicht, erstaunlich gut sitzende emotionale Sequenzen, die unter die Haut gehen und nicht zu vergessen ordentlich rabiate Action. Erneut: ‘überwiegend’ leise Töne, aber wie in einem Tarantino geht es allerspätestens im Finale richtig zur Sache und da bildet Freaks Out keine Ausnahme.
… aber mitunter zu bunt
Dieser wilde Mix ist dabei wie ein graziler Drahtseilakt, der ab und an eine Bananenschale auf dem Weg übersieht. Immer wieder schön anzusehen, aber manchmal beißt man sich auf die Zunge. Konkret soll das heißen, dass der Mischmasch mit seiner wechselnden Tonalität, seinem Humor und seinen dramatischen Noten nicht immer die perfekte Mitte trifft. Auf der einen Seite hat man eine wirkliche starke Szene, in der Matilde den Grund für ihre anhaltende Furcht vor ihren Kräften enthüllt, die von einer starken Performance von ihrer Schauspielerin mit ordentlich Wucht angefüllt wird, an anderer Stelle wird Mini-Magneto-Mario mit heraushängendem Mini-Magnet an eine rotierende Scheibe gehängt, während er Kinderreime murmelt. Klarerweise eine Banane samt Schale. Obendrein, wenn schon der Zeigefinger zur Kritik erhoben wird, fällt auf, dass der Hauptfokus auf Matilde liegt und darüber ihre Begleiter etwas in den Hintergrund rücken. Nie so sehr, dass sie gleich im Wagen hätten sitzen bleiben und sich abschminken können, aber speziell Mario und Cencio dürfen recht wenig beitragen, haben trotzdem eine ungemein sympathische Ausstrahlung. Abgesehen von den spontanen Masturbierungen, aber gut, nicht jeder ist perfekt. An der Effektfront gibt es ebenfalls wenig auszusetzen, bis auf das ein oder andere zu deutliche CGI-Tierchen oder Lokomotivchen. Gerade der Abschluss macht viel Spaß und auch sonst ist die gut und sparsam gesetzte Action ordentlich ruppig. Letztlich zählt ohnehin das jeder mit Herzblut bei der Sache ist und das kann man den Darstellern, insbesondere Franz, absolut nicht absprechen. Im Gegenteil, sie holen alles aus den Dialogen heraus, was man herausholen kann.
Fazit
Freaks Out hat mich ziemlich überrascht, da ich, nun, ehrlich gesagt nicht einmal sicher bin, was ich genau erwartet habe, aber definitiv nicht das. Mal dramatisch, mal emotional, mal verrückt, mal lustig. Es ist ein Film, der mit etlichen Elementen jongliert, allerdings dabei ab und an eine Kugel auf den Kopf fallen lässt. Meiner Ansicht nach absolut nicht schlimm, sondern eine warme Empfehlung wert. Wobei ich erneut mit Blick auf den ‘Superheldenfilm’ mit dicken Anführungszeichen arbeiten würde. Ja, da sind Menschen mit übernatürlichen Kräften, aber es ist vielmehr ‘schlicht’ ein Fantasy-Film, nichts allzu Marveliges, DC’iges oder Comichaftes dabei. Schauwerte hat er aber trotzdem, denn wenn der Zirkus Berlin rundum Antagonist Franz kein Hingucker ist, dann weiß ich auch nicht mehr. Ein riesiges Hitler-Clownsgesicht als Eingang, Hakenkreuze soweit das Auge reicht (außer in Form von Zuckerwatte, verpasste Gelegenheit, wenn man mich fragt) und sogar SS-Quietsche-Ballons für die Kleinen. Fantastisch. Letztlich fällt es schwer, den Film genau festzunageln, aber ich sage es einmal so: Wen das, was er oder sie bisher gelesen hat, in irgendeiner Form interessiert oder neugierig gemacht hat, sollte dem Film eine Chance einräumen. Freaks Out ist nicht perfekt und gerade einige der Figuren bleiben sträflich ungenutzt, aber es steckt viel Herzblut darin, hat tolle Schauspieler:innen und versucht einmal etwas gänzlich Eigenes, auch wenn die Tonalitäten manchmal zusammenkrachen und sich gegenseitig antröten. So ist das eben im Zirkus. Manchmal isst du den Tiger und manchmal isst der Tiger dich. Oder so ähnlich.
© Leonine Distribution
Veröffentlichung: 23. Juni 2023