Die Spiegelreisende-Saga

Die Spiegelreisende steht Harry Potter in nichts nach“, behauptet das Fashion-Magazin Elle. Bei solchen Wertungen sollte man für gewöhnlich skeptisch sein, denn Mode- und TV-Zeitschriften werfen gerne mit dem Harry Potter-Gütesiegel um sich. In ihrem Heimatland Frankreich gehört Christelle Dabos’ mittlerweile abgeschlossene Tetralogie über die Spiegelreisende Ophelia, die in einer intrigenreichen und zersplitterten Welt zu überleben versucht, bereits zur Bestsellerliste. Und auch hierzulande sollten Fans von J. K. Rowling und Philip Pullman durchaus einen Blick in dieses neue einnehmende Fantasy-Universum riskieren, dessen vierter und letzter Band im Juni 2020 erschien.

     

Nachdem ein gewaltiger Riss die ursprüngliche Welt zerstört hat, gibt es nur noch vereinzelte, in den Lüften schwebende Inseln – die so genannten Archen. Auf ihnen leben Familien, die über besondere Kräfte verfügen und jeweils von einem Urahn, dem „Familiengeist“, angeführt werden. Die junge Ophelia lebt auf der Arche Anima und arbeitet im lokalen Museum, wo sie hingebungsvoll das Erbe ihrer Ahnen pflegt. Ihr Familiengeist Artemis hat ihr die Fähigkeit verliehen, Dinge zu animieren. Darüber hinaus kann sie die Vergangenheit von Dingen „lesen“ sowie durch Spiegel gehen. Eines Tages kommt die Hiobsbotschaft herein: Ophelia soll ihre Heimat verlassen und auf die eisige Arche des Pols ziehen um dort den griesgrämigen Thorn zu heiraten. Um Liebe geht es dabei nicht. Stattdessen findet sich Ophelia in einem brutalen Gespinst aus politischen Intrigen wieder. Ihre neuer Job: Überleben.

Postapokalypse mal anders

Originaltitel La Passe-miroir
Ursprungsland Frankreich
Jahr 2013 – 2019
Typ Roman
Bände 4
Genre Fantasy
Autorin Christelle Dabos
Verlag Insel Verlag
Seit Juni 2020 vollständig verfügbar

Es beginnt harmlos mit der Vorstellung der sonnigen Arche Anima. Die Protagonistin Ophelia ist eine introvertierte Piepsmaus mit langen Locken, Brille und einem eigenwilligen (da lebendigen) Schal, hinter dem sie sich versteckt. Sie arbeitet in einem Museum und katalogisiert die Dinge mit Hilfe ihrer „Lese“fähigkeit. Ophelia erscheint wie die typische Ausgeburt einer Heldin, die sich eine introvertierte bebrillte Autorin, die nebenbei ausgebildete Bibliothekarin ist (also Christelle Dabos), wünscht – quasi die Antithese zur „strong and independent female“ (Die Tribute von Panem). Zwar beschreibt Dabos eigentlich eine postapokalyptische Welt (niemand geringeres als „Gott“ hat die Welt in einem Wutanfall zerstört), doch auf Anima scheint noch alles in bester Ordnung zu sein.

Ein Mix aus Gesellschaftsroman …

Der harte Bruch geschieht, sobald Ophelia auf dem Pol ankommt. Auf einmal sieht sie sich mit einer komplizierten höfischen Hierarchie konfrontiert, in der die Klans mit Intrigen und Gewalt um die Vorherrschaft kämpfen. Die Konzentration auf Hof und Adel, die Dialoglastigkeit und die Eigenheit der Figuren, sich allesamt in der 2. Person Plural anzureden, kann bei manchem ein Gefühl der trockenen Distanziertheit hervorrufen. Allgemein erinnert Dabos’ Stil an die Gesellschaftsromane aus dem 19. Jhd., unter anderem von Jane Austen. Jane Austen kombinierte ihrerzeit den Gesellschafts- mit dem Liebesroman und Dabos tut bei Der Spiegelreisenden etwas ähnliches. Gesellschaftsroman ist die Geschichte dort, wo Dabos die gesellschaftliche Situation am Pol (oder später auf Babel) schildert. Sie porträtiert das Verhältnis zwischen gegensätzlichen Bevölkerungsgruppen (zum Beispiel Drachen-Klan/andere Klans, Begabte/Gabenlose) und lässt Familienkräfte (oder Ansichten) aufeinander prallen.

… und Liebesroman (light)

Dagegen findet man den Liebesroman logischerweise dort, wo es um die arrangierte Ehe zwischen Ophelia und Thorn geht. Man hat im Grunde eine freshe Fantasy-Variante von Jane Austens Elizabeth und Mr. Darcy vor sich. Beide sind voller Vorurteile und legen einen erstaunlichen Unwillen an den Tag, sich aufeinander einzulassen. Zu Beginn der Saga scheint es, als würden Ophelia und Thorn nie zueinander finden, zumal Thorn nur sehr selten das Rampenlicht betritt und wenn er es tut, dann kann ihn keiner leiden. Betrachtet man aber, wie viel Energie Dabos darauf verwendet, Thorns Erscheinung zu beschreiben, dann ist klar, dass sie mit ihm noch etwas vorhat. Wär ja sonst vergeudete Lebenszeit.

Thorn

Die Beziehung Ophelia/Thorn erinnert teilweise auch an das Twilight‘sche Erfolgskonzept „Das Lamm zähmt den Löwen“ – nur weniger plump und kitschig. So etwa könnten die Beschreibungen von Thorn nicht unvorteilhafter ausfallen. In Thorns Gesicht prangt eine Hakennase, er ist groß, knochig und ungelenk, hat Migräne, später sogar eine quietschende Beinschiene, und darüber hinaus einen saftigen Mutterkomplex. Ophelia sieht in ihm nur einen „langen Lulatsch, den sie heiraten muss“. Das klingt erst mal ziemlich lame. Deswegen hat Dabos ihm auch eine brutale Familienkraft verpasst (die „Drachenkrallen“), die zu kontrollieren er aber große Schwierigkeiten hat. Thorn ist also zu ungeheurer Gewalt fähig, strengt sich aber an, friedfertig zu sein. Eine Kombi, die (gerade in einem Jugendbuch) sein muss, denn sonst wäre Thorn nicht friedfertig, sondern einfach nur harmlos – und eben lame.

Ophelia

Weil Thorn ein unehelicher Bastard ist, von allen gehasst wird und dennoch ein hohes Amt auf dem Pol bekleidet, muss er seine Verlobte Ophelia mit Hilfe von Rollenspielchen schützen und unter Verschluss halten – was ihm nur mäßig gelingt. Seine Verlobte wird Opfer von mentaler und physischer Gewalt, die sich wie ein roter Faden durch die Spiegelreisenden-Saga zieht. Ophelia erträgt das alles mit einem stoischen Fatalismus, der einen zur Weißglut bringt. Auf dem Buchrücken wird sie als „unvergessliche Heldin“ betitelt, doch Tatsache ist, dass sie in Band 1 seltsam blass und devot bleibt. Und später? Das Spiegelreisen als besondere Kraft von Ophelia ist quasi prädestiniert für einen Entwicklungsroman (sich selbst begegnen und so). Denn bei Ophelia geht es vor allem um Identitätsfindung, welche jedoch ihr (und uns) durch die ganzen Rollenspielchen gehörig erschwert wird. Auch wenn wir stets klaren Einblick in ihr Innenleben habe, bleibt der Draht zu ihr trotzdem irgendwie nur … medium warm. Dennoch macht sie eine zufriedenstellende Wandlung durch, die auch so manch ernste Themen wie Mutterschaft anschneidet.

Der ganze restliche Cast

Die Spiegelreisende besitzt ein breites Figurenangebot: Vom kleinen gestörten Antichristen über Schürzenjäger, queer people und Rollstuhlfahrern bis hin zu dementen Familiengeistern ist alles dabei – und keine/r von ihnen ist wahrhaftig „gut“, sprich vertrauenswürdig. Dabos ist in der Entwicklung ihrer Figuren konsequent. Viele Dinge beeinflussen die Figuren nachhaltig. Die eine wird schwanger, der andere schrottet sein Bein, wieder ein anderer wird „verstümmelt“ (also gerichtlich abgesegnet seiner Familienkraft beraubt) – alles Ereignisse, die die Figuren grundlegend verändern. Das macht sie lebendig und spannend. Seltsamerweise baut man zu ihnen trotzdem nur schwer einen emotionalen Draht auf. Wenn in Band 4 einige hops gehen, dann nimmt man das kopfnickend hin.

Romanze? Wo?

Die Saga der Spiegelreisenden entwickelt sich. Band 1 fungiert dabei gerade mal als Vorspiel. Hier wird sich auf den Weltenaufbau konzentriert und die Ideen sprudeln nur so aus Dabos heraus. Es ist höchst interessant zu lesen, wie Dabos die riesenhaften Familiengeister darstellt. Wie sie die Wechselwirkungen von Familienkraft und Charakter beschreibt. Wie sie Subvarianten von Familienkräften einführt und diese logisch mit der Hauptkraft verbindet, und welche Alltagserfindungen auf diesen Kräften basieren. Es ist eine Freude, in diese detaillierte Welt einzutauchen. Ein geschichtliches Ziel lässt sich in Band 1 aber noch nicht finden. Wer denkt, der Schwerpunkt der Saga läge auf der Liebesgeschichte, der könnte nicht falscher denken. Tatsächlich schafft es Dabos ihre Helden in jedem Band ein neues Rollenspiel spielen zu lassen (was gewissermaßen ermüdend ist), bei dem sie sich leugnen müssen und in einem fragwürdigen Machtverhältnis zueinander stehen. Szenen, in den Ophelia und Thorn offen miteinander agieren, sind selten.

Darum geht’s wirklich

Stattdessen schält sich aus dem ganzen höfischen Hickhack nach und nach die wahre Geschichte heraus: Es geht um nichts anderes als die Zerstörung der Welt und sogar um „Gott“ persönlich. Ophelia mausert sich von der klein gehaltenen Verlobten, die versucht zu überleben (Band 1: Die Verlobten des Winters) zur „Vorleserin“ eines Familiengeistes und muss Entführungsfälle aufklären (Band 2: Die Verschwundenen vom Mondscheinpalast). Später landet sie auf der kosmopoliten Zwillingsarche Babel, einem Schmelztiegel der Kulturen, auf der sie auf die Nachkommen der 20 anderen Familiengeister trifft und Mordfälle untersucht (Band 3: Das Gedächtnis von Babel). Und zu guter Letzt ist Ophelia die Einzige, die einen erneuten Zerfall der Welt verhindern kann (Band 4: Im Sturm der Echos). Dabos spinnt eine groß angelegte, sehr spannende und für die Welt fundamentale Geschichte und schafft es, Details aus dem ersten Band auf wundersame Weise mit dem großen Ganzen zu verknüpfen.

Fazit

Mit der Spiegelreisenden-Saga hat der Insel Verlag ein uniques und ideenreiches Fantasy-Universum abgegriffen. Dabos erzählt die gelungene Geschichte einer jungen, unbedarften Frau, die sich in einer brutalen und rachsüchtigen Welt behaupten muss. Die Figuren sind vielfältig und manche beschreiten überraschende, konsequente Pfade. Wer eine klassische Liebesgeschichte sucht, in der die Liebenden ständig aufeinander hocken, wird hier aber nicht fündig. Die Beziehung Thorn/Ophelia ist von Misstrauen und gegenseitiger Ablehnung geprägt und entwickelt sich erst ganz allmählich zu einer fragilen Komplizenschaft (und evt. Liebe). Das macht diese Beziehung jedoch auch so besonders schön und tragisch. Der Vergleich mit Harry Potter ist nicht immer angebracht. Es gibt keinen vereinten Kampf aller gegen „das absolut Böse“ (was ich gut finde) und in Sachen „Epicness“ hinkt Die Spiegelreisende vor allem beim historischen Umfang hinterher. Aber gut, nevermind. Es ist nicht Harry Potter, doch wie gesagt: Wer gerne Rowling oder Pullman liest, der könnte mit der Spiegelreisenden glücklich werden. Für mich gehört die Buchreihe definitiv zu der Sorte, die einen Reread wert ist – und für meine Maßstäbe heißt das was.

© Insel Verlag

Totman Gehend

Totman ist Musiker, zockt in der Freizeit bevorzugt Indie-Games, Taktik-Shooter oder ganz was anderes und sammelt schöne Bücher. Größtes Laster: Red Bull. Lieblingsplatz im Netz: der 24/7 Music-Stream von Cryo Chamber auf YouTube.

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Aki
Aki
Redakteur
4. Dezember 2021 12:58

Eigentlich ein Regalbrett voller ungelesener Bücher und doch keinen Bock, eines davon zu lesen. Daher ab in den Buchladen. Da fiel mir dann der erste Band dieser Reihe in die Hände und ich erinnerte mich noch grob an diese Review und dachte: Klingt ganz Interessant, nehme ich mal mit.

Was ich wirklich bestätigen kann, ist, wie Dabos uns in eine vielschichtige, sehr gut ausgebaute Welt entführt. Mir gefällt vor allem, wie viele Zeilen dafür drauf gehen wie Figuren sprechen, ihre Handlung, ihre Macken und Marotten. Das Lesen hat mir daher viel Spaß gemacht, denn so wirkte alles sehr lebendig und die Szenerien erschienen komplett bebildert in meinen Oberstübchen. Allgemein würde ich auch sagen, dass die Autorin einen sehr flüssig zu lesenden Stil hat, denn ich war selbst immer wieder verwundert, wie schnell ich am Ende der Kapitel ankam. Nur die Kapitelnamen sind recht einfallslos meiner Meinung nach, da vermisste ich schlicht die Kreativität, mit der die Autorin ihre Welt sonst so ausbaut.

Gerade die unterschiedlichen Archen und Familiengeister taten es mir beim Lesen an, denn die Frage war dar, was sie mit diesen Fragmenten über Gott zu tun haben. Das dieser Teil noch so ausgebaut wird, gefällt mir, denn so ist Die Spiegelreisende keine reine Love Story, sondern wirklich ein Fantasy-Epos über den Untergang der Welt. Was jedoch das Ende angeht, so bin ich mit Auflösung nicht zu 100% zu frieden.

Spoiler
Es ist einfach so ein großer Zufall, dass Ophelia in Babel so viel Kontakt mit der richtigen Eulalia Gort in Form von Elizabeth hatte. Irgendwie ist die Auflösung daher so lasch, denn es ist wie in jedem Krimi, dass der Täter einer der bekannten Figuren sein muss. Immerhin Elizabeths Aussehen und das von Ophelia machen so Sinn, denn wen im Spiegle die Atome so durcheinander geraten sind, ist klar, dass Gott eine Figur sein muss, die das Aussehen von Ophelias Familie hat. Übrigens finde ich es klasse, dass die Geschichte einen solchen Science-Fiction Einschlag später bekommt. Also alleine dieses Schwarze Loch, die Umpolung und Eulalias Erschaffung der Familiengeister haben nichts Magisches an sich.

Was Ophelia angeht, muss ich auch sagen, dass sie im ersten Band wirklich recht blass bleibt, es allerdings spannend ist, wie sie in die Welt des Pols und des Adels gerät. Imme wieder überrascht sie mich aber auch, denn

Spoiler
als sie Faruk die Stirn bietet, Thorn gegenüber ihre Gefühle mehr herauslässt und ihn anmeckert oder später ihm sogar eine klatscht, geschieht das gerne mal ohne Vorwarnung. Vor allem weil man die graue lesende Maus vom Anfang so eingeprägt bekommt XD Ihre Entwicklung ist daher passend, wobei ich es schön finde, dass ihr im Grunde später klar wird, dass sie von Anfang an einen anderen Lebensweg gehen wollte, als ihre Mutter.

Ihre Beziehung zu Thorn entwickelt sich für mich auch sehr angenehm. Klar, im ersten Band kann man an einer Hand die Treffen der beiden zählen, doch finde ich, dass jedes davon mehr Ausstrahlung hatte, als in anderen Geschichten, wo sich Figuren stundenlang unterhalten.

Spoiler
Der Kuss ist für mich da so ein Highlight. Ich hab Null damit gerechnet, so wie unsere Heldin, denn Thorn ist einfach nicht der gefühlvolle Mensch. Trotzdem passte es in dem Moment, denn bis dahin waren schon so kleine Anzeichen gesetzt, dass Thron sich schlicht hinter seiner Ordnung versteckt, um ja nicht sich mit seinen Gefühlen auseinandersetzen zu müssen. Das er Ophelia mag, war auch schon klar. Trotzdem ist das so ein Sprung in seinem Verhalten, dass ich echt lachen musste.  

Ich finde es am Ende nur sehr schade, dass die beiden getrennt sind. Gott, sie haben so viel durchgemacht, gerade Ophelia bezahlt so einen hohen Preis mit ihren Händen und dann wird er ihr auch noch genommen. Da hätte Dabos ruhig etwas kitschig sein dürfen. Schließlich ist Archibald, ich mag den Kerl, krank, Gwenael und Reineke sind auch verschollen.

Ich habe die Bände wirklich gern gelesen und werde es irgendwann bestimmt noch mal tun.

Aki
Aki
Redakteur
Antwort an  Totman Gehend
10. Januar 2022 18:57

Ach du, ich brauche an sich nicht mal Kapitelnamen. Die meisten Spoilern eh zu sehr oder sie sind zu nichtssagend, dass ich sie schnell wieder vergesse. Wer das immer gut hinbekommt, ist, nein nicht Stephen King, sondern Ben Aaronovitch. Die haben immer schon einen gewissen Witz drin, der sich im Kapitel entfaltet. Die Peter Grant-Reihe ist vielleicht sogar was für dich. Gibt zwar noch keine Klone aber es geht wissenschaftlich an die Magie. Etwas freaky ist es auch… Einhörner sind nicht nett…

HA Deal! Mal sehen was ich in fünf Jahren noch weiß. 😉