Der geheime Zirkel (Band 1-3)
Frauen müssen es sich oft gefallen lassen, als Hexe beschimpft zu werden. Meistens hat das etwas mit einem Verhalten außerhalb der gesellschaftlichen Norm zu tun und weniger mit tatsächlichen übernatürlichen Kräften. Die Autorin Libba Bray verbindet beides in ihrer Jugendbuch-Trilogie Der geheime Zirkel. Was wenn junge Mädchen im viktorianischen England davon träumen, ein wenig aus den Regeln auszubrechen und darüber hinaus wirklich Zugriff auf Magie haben?
1895 – Gemma Doyle lebt mit ihren Eltern in Indien. Fern von den Zwängen einer englischen Lady wächst sie eher unbekümmert auf. Da naht ihr 16. Geburtstag, mit dem sich alles verändert. Ihre Mutter stirbt auf mysteriöse Weise und hinterlässt ihr zum einen ein Amulett und zum anderen den Wunsch, dass ihre restliche Erziehung sie zurück nach England führen möge. Die Spence Akademie für junge Mädchen wird daraufhin Gemmas neue Heimat. Sie wird in das letzte Jahr der Ausbildung geworfen, die Mädchen zu Damen erziehen soll. Oberflächliche Perfektion heißt hier das Motto, denn alle wichtigen Geschäfte und Entscheidungen treffen sowieso nur Männer. Für Gemma ein ungewohntes Klima in allen Belangen. Doch eine Veränderung geht auch mit ihr selbst vor. Als ihre Mutter starb, hatte sie eine Vision und diese wachsen weiter, bis sich rauskristallisiert, dass in Gemma starke Magie schlummert. Diese ist hart umkämpft und bringt viel Verantwortung sowie ungeahnte Gefahren mit sich. Für Gemma stellt sich aber immer wieder die Frage, was schwieriger ist – eine ungleiche Schlacht, um magische Macht oder das korrekte Benehmen in der steifen Gesellschaft Londons.
Das viktorianische England
Originaltitel | Gemma Doyle Trilogy |
Ursprungsland | USA |
Jahr | 2003 – 2007 |
Typ | Roman |
Bände | 3 |
Genre | Fantasy |
Autor | Libba Bray |
Verlag | dtv |
Die Autorin Libba Bray (The Diviners) stammt aus Texas und lebt mittlerweile in New York City. Kulturell weit entfernt vom viktorianischen England. Und doch gelingt es ihr, in diese Zeit einzutauchen und ein großes Ensemble an Figuren glaubwürdig zum Leben zu erwecken. Es hilft, dass Gemma selbst in Indien aufgewachsen ist. In der britischen Kolonie hat ihre Mutter sie zwangloser erzogen. Als Erzählerin darf der Leser an ihren zahlreichen inneren Kommentaren und zynischen Bemerkungen teilhaben, was der Reihe viel Humor verleiht. Sie ist ein Fremdkörper in dieser Gesellschaft und muss noch einiges über die Gepflogenheiten lernen. Das erleichtert dem Leser den Einstieg und streut ein bisschen soziale Kritik ein, ohne zu aufdringlich zu wirken. Die Zeit wird nicht romantisiert, denn eine junge Frau, die nach mehr strebt als dem perfekten Ehemann, hat nicht viele Wahlmöglichkeiten. Und wenn Gemma beginnt, ihre Begabung zu erforschen und mit einigen Mitschülerinnen die Welt der Magie entdeckt, nimmt der Geschlechterkampf neue Dimensionen an.
Soziales Gefälle in der Mädchenschule
Zu jeder guten Geschichte, die an einem Internat spielt, gehört ein auffälliges Sozialverhalten unter den Schülern. Hierarchien und Cliquen, die in diesem Mikrokosmos die Klassengesellschaft widerspiegeln. So trifft Gemma bald auf gewisse Archetypen. Ihrer Zimmergenossin Ann Bradshaw ist die graue Maus, die am unteren Ende der Leiter steht. Die Position als Alphatier ist aber nicht eindeutig geklärt. Felicity Worthington und Pippa Cross gehören zu den beliebtesten Mädchen der Schule, wobei Felicity zunächst wie die biestige Gegenspielerin wirkt. Doch Gemma kommt ihr in einem verletzlichen Moment näher und bald sind die vier eine Einheit. Wobei der Eindruck einer Zweckgemeinschaft immer wieder durchschimmert. Dabei steigen Gemma und Ann nicht zu weit auf und die Freundschaft wird von anderen kritisch beäugt. Der geheime Zirkel besteht nicht einfach aus üblichen Außenseitern, sondern führt vier Mädchen mit gänzlich unterschiedlichem Hintergrund zusammen. Und es gibt andere Schülerinnen, die ihnen das Leben schwer machen möchten. Die Romanreihe bietet immer wieder Stereotype und Klischees, um an einigen Stellen gekonnt zu überraschen und mit Konventionen wenigstens ein bisschen zu spielen.
Verborgene Magie
Gemma wird von ihren Visionen geleitet und findet ein altes Tagebuch. Diese Aufzeichnungen erzählen vom sogenannten Orden. Ein Zusammenschluss von Frauen, die Magie entdeckten und auf vielfältige Weise zu nutzen lernten. Perfekt für die vier Mädchen, um ihrem Alltag zu entfliehen, in dem vieles vorherbestimmt scheint. Auf eine von ihnen wartet etwa eine arrangierte Ehe. Teil eines Hexenzirkels zu sein, ist eine Befreiung. Dabei wird schnell klar, dass Gemma das Zentrum ist und sie ihre Begabung teilt. Die Loyalität untereinander wird manches Mal auf die Probe gestellt. Außerdem gibt es da noch die Rakshana, einen männlichen Geheimbund, dem es gar nicht gefällt, dass er die Magie nicht kontrollieren kann. Das Tagebuch enthüllt vergangene Tragödien und Gemma muss nicht nur lernen, sich in der englischen Gesellschaft angemessen zu verhalten, sondern auch herausfinden, was tatsächlich hinter der Magie steckt. Sind Hexen doch nur Frauen mit zu viel Macht, die andere ins Verderben stürzen?
Genretypische Romanze
Selbstverständlich gibt es in Der geheime Zirkel auch eine Liebesgeschichte. Zu revolutionär zeigt sich die Reihe dann doch nicht. Kartik ist eines der jüngsten Mitglieder der Rakshana und darauf angesetzt Gemma zu beobachten. Damit sind sie im klassischen Romeo-&-Julia-Stil an verfeindete Lager gebunden, während sie Gefühle füreinander entwickeln. Was besonders bei Kartik dafür sorgt, dass er sein Weltbild überdenken muss. Im zweiten Band wird dieser Teil erweitert, da ein standesgemäßer Mann für Gemma auf der Bildfläche erscheint. Aber hier muss sie selbst überdenken, ob sie je ihr wahres Ich ausleben könnte, wenn sie sich dem Dasein als Hexe verschließt und die brave Dame des Hauses wird.
Viele angeschnittene Themen
Neben einem Blick auf Klassenunterschiede und Geschlechterrollen, versucht Libba Bray, ein wenig weiter in gesellschaftliche Phänomene und Probleme einzutauchen. Leider wird dabei viel angeschnitten, doch nur wenig konsequent unter die Lupe genommen. Ein Ausflug ins Bethlem Royal Hospital, einem der ältesten psychiatrischen Krankenhäuser Europas, wird für abenteuerlichen Nervenkitzel genutzt. Die psychisch angeschlagene Figur aber nur recht oberflächlich eingearbeitet. Es mangelt ein wenig an Fingerspitzengefühl für ein sensibles Thema. Eine Abhängigkeit von Laudanum wird dramatisch eingeflochten, trägt aber nur wenig bei. Und selbst Homosexualität wird für findige Leser im ersten Band als Subtext eingebunden, um am Ende der Trilogie mit aha-Effekt bestätigt zu werden. Leider ohne dem betroffenen Charakter daraus einen sichtbaren Handlungsbogen zu bauen. Dafür wird familiärer Kindesmissbrauch etwas offenkundiger eingeworfen, aber ebenfalls ohne zu sehr in die Tiefe zu gehen.
Deutsche Veröffentlichung
In Deutschland erschien Der Geheime Zirkel erstmals im Zeitraum von Mai 2007 bis November 2008. Nachdem diese Veröffentlichung mit mehreren Auflagen bedacht wurde, folgte 2016 eine Neuausgabe. Wer im Regal Wert auf zusammengehörige Cover legt, sollte besonders bei einem Gebrauchtkauf also zweimal hinsehen. Ein bisschen schade an der deutschen Übersetzung sind die recht generischen Titel. “Gemmas Visionen”, “Circes Rückkehr” und “Kartiks Schicksal” spiegeln den Inhalt des jeweiligen Bandes zwar wider, wecken die Neugier aber weniger als die poetischen Originaltitel. “A Great and Terrible Beauty” ist eine Zeile aus dem Roman, in dem die vier Mädchen zum ersten Mal unsichtbar mitten unter ihren Mitschülerinnen stehen. Während ihre Macht wächst, können sie schönes erleben, aber auch schreckliches erschaffen. Band 2 “Rebel Angels” und Band 3 “The Sweet Far Thing” sind aus Gedichten übernommen, mit denen die entsprechenden Bücher auch beginnen. Grade die Nutzung von John Miltons “Paradise Lost” ist in der Literatur immer wieder spannend, um Verbindungen zu ziehen, so auch hier.
Fazit
Ich hatte keine besonderen Erwartungen und war selbst überrascht, wie schnell ich mich in diese Welt eingelesen habe und dann im Eiltempo zum Ende kam. Dabei gefällt mir besonders die Verknüpfung von Hexen zum Frauenbild im viktorianischen England. Das ist die absolute Stärke der Reihe. Das balanciert für mich dann auch die Fehltritte aus, bei den zu kurz kommenden Themen. Wobei ich da auch auf Grund der Entstehungszeit ein Auge zudrücke. Von einem Roman aus dem Jahr 2019 erwarte ich mehr, 2003 erschien die Fülle an gesellschaftlichen Themen gewagt. Die starken Figuren, die viele Schwäche offenbaren dürfen, sind mir schnell ans Herz gewachsen. Da wünsche ich mir, dass die Idee einer Verfilmung wieder aufgegriffen wird. Die Geschichte bietet sich an, ein wenig zusammen gerafft eine Leinwand zu füllen. Aber dafür haben Leser ja ihre Fantasie. Leider fällt die Erzähldichte bei Band 3 ein wenig auseinander. Da geht es ziemlich viel hin und her und wieder zurück, und nachdem man hunderte von Seiten hinter sich hat, wird das große Finale vergleichsweise schnell abgehakt. Vor dem Durchschnitt bewahrt sich Der geheime Zirkel bei mir durch die nicht auf lieb getrimmten Hauptfiguren und einige überraschende Entscheidungen über Leben und Tod, mit denen ich nicht gerechnet habe.
© dtv