Beastars (Staffel 1)

Um einen Vergleich mit Disneys Zootopia kommt man wohl nicht herum, dabei ist Netflix’ Anime-Serie Beastars aus dem Studio Orange so viel mehr als das. Zum einen festigt die Serie den neuen CGI-Standard, den Studio Orange zuletzt mit Land of the Lustrous gesetzt hat. Und zum anderen lässt Beastars mit seinem dunklen und durchaus blutigen Blick auf die Definition von Liebe die sonstigen typischen „Horny Teen“-Animes in eine Staubwolke der Belanglosigkeit hinter sich zurück. Beastars erzählt von der bizarren Beziehung zwischen einem schüchternen Wolf und einem kühnen Kaninchen.

     

Als Alpaka Tem in einem so genannten „Verschling-Vorfall“ von einem Unbekannten gefressen wird, verdächtigen viele an der Cherryton-Schule natürlich den Grauen Wolf Legoshi. Legoshi, der Misstrauen und Ablehnung seiner Person gewohnt ist, duckt sich weg und versucht allen aus dem Weg zu gehen. Dann aber trifft er auf das Zwergkaninchen Haru. Weit mutiger als man sie einschätzen würde, ist sich Haru bewusst, dass sie immer nur einen Schritt vom Tod entfernt ist. Sie ist eine Ausgestoßene mit dem Ruf promiskutiv zu sein. Legoshi verliebt sich in sie, Haru aber hat nur Augen für den Allstar der Schule, den Rothirsch Rouis. Rouis ist alles, was Legoshi nicht ist und davon angewidert, dass Legoshi seine wahre Natur unterdrückt. Während der gesamten Serie hangelt sich Legoshi durch dieses artenübergreifende Beziehungsdreieck und versucht herauszufinden, ob Haru seine erste echte Liebe ist oder aber seine zukünftige Beute.

Zootopia? Erm, nein.

Originaltitel BEASTARS
Jahr 2019
Episoden 12 in Staffel 1
Genre Slice of Life, Psychological, Drama
Regie Shinichi Matsumi
Studio Orange
Seit dem 13. März 2020 auf Netflix verfügbar

Sowohl Zootopia als auch Beastars spielen in Welten, in denen anthropomorphe Tiere größtenteils in Harmonie miteinander leben. Das Einzige, was sie voneinander trennt, ist die Speisekarte. Beide Titel konzentrieren sich auf die Beziehungen zwischen zwei Polen, die sich diametral entgegen stehen, wobei der eine der natürliche Feind des anderen ist. Letztendlich aber ist der von Gewalt und Sexualität geprägte dunkle Ton von Beastars mit seiner komplexen, zum Nachdenken anregenden Handlung eine sehr viel erfüllendere Erfahrung als der Disney-Film von 2016. Wie so oft greifen die japanischen Zeichentrick-Studios nach den Sternen (animatorisch und in diesem Falle besonders inhaltlich), während ihre amerikanischen Kollegen weiterhin in ihrem Sandkasten feststecken.

Stop-Motion meets CGI

Einige von Netflix’ lizenzierten Animes zeichnen sich durch einen besonderen Art Style aus, so wie z.B. Bakemonogatari, Kizumonogatari und zuletzt das gewöhnungsbedürftige Devilman: Crybaby. Beastars ist im Vergleich zu Devilman freilich keine Erwähnung wert, nahezu harmlos, trotzdem verfügt auch diese Serie über ein eigenes Design. Das geht schon los beim Opening: Eine Hasenjagd im altmodischen Stop-Motion-Stil und mit scheinbar niedriger Bildrate, so dass es rau und ungeschliffen wirkt. Stop-Motion-Filme sind etwas sehr Handwerkliches und werden von Liebhabern u.a. wegen ihres magischen Entstehungsprozesses geschätzt. Die Verwendung dieser Technik im Opening ist deshalb interessant, da der ganze Rest von Beasters pures CGI ist. Doch gehört Beastars zu den seltenen Vertretern, die beweisen, dass CGI einen Anime nicht ruinieren muss – anders als etwa bei Knights of Sidonia oder Ajin. Nein, bei Beastars fällt das CGI nie in negativer Weise auf. Ganz im Gegenteil, es sieht sogar fantastisch aus. Dazu kommen viele visuelle Kniffe wie die Darstellung der Figuren in neonfarbenen Outlines oder sonstige Gimmicks, die das Anschauen interessant machen. Und durch die Verwendung von Split-Screen bekommen Dialogszenen ihre eigene intensive Energie.

Das Main-Trio

Beastars wartet mit Charakteren auf, die interessant und vielschichtig sind. Der egozentrische Hirsch Rouis etwa besitzt ein ungemein starkes Wesen, beneidet aber insgeheim die Natur der Fleischfresser und will sie sogar fördern. Das Zwergkaninchen Haru ist „das schwache Baby“, das zwar bei Kerlen Beschützerinstinkte hervorruft, sonst aber von allen gemieden und gemobbt wird. Sie gilt als Hure, was natürlich an ihrer „Rammler-Natur“ liegen könnte. Oder hat das etwa einen anderen Grund? Interessant ist, dass sie die einzige weibliche Figur ohne ausgeprägte Pupillen oder Wimpern ist, quasi nur kohlrabenschwarze Augen hat, und damit in manchen Szenen geradezu asexuell wirkt. Trotzdem umgibt Haru eine starke sexuelle Aura. Und Legoshi? Er ist der gefürchtete große böse Wolf, der sich auf die Seite der Pflanzenfresser stellt und seine Stärke untergräbt. Trotz der Selbstdomestizierung, die er betreibt, ist er eine aufrichtige und ehrliche Type und erinnert in seiner Introvertiertheit und gebeugten Haltung an Hikigaya Hachiman aus Oregairu.

Slice-of-Life mit der Prise Todesgefahr

Wenn man mal von dem Subplot mit dem Mord absieht, dann erzählt Beastars wie viele Animes vom Schulalltag. Es geht um das AG-Leben, um Mobbing, um das Organisieren von Festivals und das Entdecken der Liebe. Gebettet in ein normales humanes Umfeld könnte das schnell beliebig wirken, bei Beastars aber gibt es dieses spezielle Gewürz, das alles höchst interessant werden lässt: Instinkte. Im Hintergrund des Schulalltags wabert ständig gefährlicher Animalismus herum und erzeugt Spannung. Das Drehbuch von Nanami Higuchi (Little Witch Academia) gibt jeder der drei Hauptfiguren Zeit, sich zu entwickeln, sodass die Zuseher deren Verhalten und Ambitionen erforschen können. Und der Blick auf die Welt außerhalb von Cherryton geht hauptsächlich auf den Schwarzmarkt, einen nicht ganz geheimen Ort, an dem Fleischfresser Fleisch von Beerdigungen und Krankenhäusern erwerben können. Das bietet nur einen Vorgeschmack auf die komplizierte Politik dieser Welt.

Liebe oder Jagdinstinkt?

Das Besondere an Beastars’ Lovestory ist, dass die Serie gar nicht weiß, was Liebe ist. Anders als andere Schulromanzen-Animes, die dem romantischen Ideal hinterher jagen, muss in Beastars erst einmal die Definition von Liebe geklärt werden. Was empfindet der große Wolf für das kleine Kaninchen? Sind es verborgene Jagdinstinkte, die sich als romantische Gefühle tarnen? Fakt ist, dass Legoshi in vielen Szenen allzu stark auf Haru reagiert und man das durchaus als territoriales Verhalten deuten kann. Auf Youtube gibt es ein Video, in dem eine Löwin ein Kalb vor anderen Löwen beschützt. Sie behält es nah bei sich, leckt es ab und „streichelt“ es. Die Romantiker verstehen das als speziesübergreifende Liebe. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Löwin mit ihrem Essen spielt. Und so ist sich auch Legoshi nicht sicher, ob er in Haru Beute sieht oder nicht.

Gender-Spiegel

Man kann diesen „Liebe oder Jagd?“-Aspekt freilich auch auf die Menschheit und ihr Geschlechterverhalten beziehen. Der Sci-Fi-Autor James Tiptree Jr. schrieb in seinem Essay über die Geschlechter, dass männliches Verhalten vor allem einer evolutionären Aufgabe diene: Der Mann verfolgt, schnappt und penetriert zur Erhaltung seiner Spezies. Dazu benutzt er überwiegend dieselbe Ausrüstung, die auch der Aggression und der Jagd dienen. Männliche Sexualität verläuft daher auf denselben Nervenbahnen wie Aggression und Gewalt – und Legoshi ist ein Paradebeispiel dessen. Die männliche Territorialität, der ewige Dominanz-Unterwerfungs-Konflikt – das alles sind Verhaltensmuster der Fleischfresser aus Beastars. Die Pflanzenfresser hingegen vereinen das weibliche Muster: Führung ohne Aggression, Einfühlungsvermögen, Ausdauer, genauste Kenntnis der Umwelt. Ein duales Denkmuster, ja, aber es ist klar (auch für Tiptree), dass der Dualismus überwunden werden muss.

Gesellschafts-Spiegel

Entwicklung kann also nur stattfinden, wenn beide Verhaltensmuster vereint werden. Bei Beastars heißt das, dass Fleisch- und Pflanzenfressern eine symbiotische Gemeinschaft bilden. Doch vor allem die Fleischfresser werden für dieses hehre Projekt mit Auflagen belegt: Sie dürfen die Zähne nicht zeigen (manche lassen sich sogar Prothesen einsetzen, damit die furchteinflößenden Reißzähne verschwinden), kein Fleisch essen (was zum Florieren von Schwarzmärkten führt) und Kämpfe sind auch untersagt. Mit zunehmender Zivilisierung müssen also die Instinkte unterdrückt werden, was Frust und Aggressionen hervorruft, die sich eventuell in Form der „Verschling-Vorfälle“ entladen. In Beastars spielen also Unterdrückung von Gefühlen, Schauspielerei und das Wandeln zwischen Extremen eine große Rolle, sowie natürlich die Frage: Kann man seiner eigenen Natur entkommen?

Fazit

Ich bin ganz begeistert von Beastars. Die Serie zeichnet sich auf visueller und vor allem auf philosophischer Ebene aus. Es ist eine Geschichte über Natur vs. Erziehung und Instinkt vs. Ratio. Das sind die Push- und Pull-Faktoren, die die Serie antreiben, egal, ob es um das Zwischentierische oder die Machtstruktur an der Schule geht. Und alles wird so reif und ernst abgefrühstückt, dass man vergisst über die Witze über die bekannte Rammler-Natur von Kaninchen zu lachen oder über die Tatsache, dass ein Panda mit einer Bambus-Armbrust Löwen abknallt. Die letzte Folge flacht zwar etwas ab und hat mich irgendwie leicht ratlos zurückgelassen, aber bis dahin ist Beastars eine packende, groteske und faszinierende Angelegenheit. Freue mich auf Staffel 2, die für die zweite 2020er-Hälfte angesetzt ist.

© Netflix

Totman Gehend

Totman ist Musiker, zockt in der Freizeit bevorzugt Indie-Games, Taktik-Shooter oder ganz was anderes und sammelt schöne Bücher. Größtes Laster: Red Bull. Lieblingsplatz im Netz: der 24/7 Music-Stream von Cryo Chamber auf YouTube.

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