Lacuna
Der Cyberpunk kommt in den schönsten Formen und Farben daher. Irgendwo findet jeder seine persönlich passende Genre-Variation. Wer mit Keanu Reeves durch eine prächtig polierte Open World brettern will, der greife zu Cyberpunk 2077. Wer lieber Lieferfahrerin in einem Hovercar spielt, der schmeiße Cloudpunk an. Die schnetzelfreudigen High-Speed-Junkies werden mit Ghostrunner glücklich. Und die investigativen Pixelgrafik-Noir-Liebhaber? Die kommen bei dem im Mai 2021 für den PC und am 28. Dezember 2021 für Nintendo Switch erschienenen Lacuna auf ihre Kosten, einem melancholischen Cyberpunk-Krimi aus dem Hause DigiTales Interactive, bei dem wir als CDI-Agent Conrad versuchen, einen interplanetaren Krieg zu verhindern.
Gipfeltreffen in einem fernen Planetensystem. Zwischen dem Planeten Ghara und seiner Kolonie Drovia kommt es das erste Mal seit langer Zeit wieder zu Verhandlungen. Verhandlungen, die die fragile Beziehung zwischen den beiden Gesellschaften festigen oder aber komplett zerstören könnten – und natürlich tritt der Worst Case ein: Ein Schuss bringt den drovianischen Außenminister zur Strecke. Es liegt nun am feingeistigen CDI-Agent Neil Conrad und seinem eher groben Kollegen Gary, den Fall zu lösen und einen interplanetaren Krieg zu verhindern.
Conrad, der einsame Wolf
Originaltitel | Lacuna |
Jahr | 2021 |
Plattform | Microsoft Windows, Nintendo Switch |
Genre | Adventure, Puzzle, Indie Game |
Publisher | Assemble Entertainment, WhisperGames, Mayflower Entertainment |
Spieler | 1 |
USK | keine Angabe |
Veröffentlichung: 20. Mai 2021 (PC, 28. Dezember 2021 (Nintendo Switch) |
Der Cyberpunk gilt als der »Film Noir« unter den Science-Fiction-Genres – also als die »dunklere Spielart«. Er tendiert zu einer dystopischen Darstellung der Zukunft inkl. Kommerzialisierung, Urbanisierung und übermäßigem Körpertuning und stellt meistenteils irgendwie gebeutelte (Anti-)Helden in den Mittelpunkt. Was davon bietet Lacuna? Fangen wir beim Protagonisten an. Neil Conrad erscheint wie der typische Lonely Wolf-Typ. Hände in den Taschen, Zigarette im Mund (sofern man ihm das Rauchen gestattet) und grüblerisch, aber kein obercooler Macho, denn er trägt immer noch den Nachnamen seiner Ex-Frau. Bei seinen Streifzügen durch die Stadt führt Conrad deepe Monologe, erkennt die Missstände in seiner Umwelt und sucht den Sinn im eigenen Leben. Conrad ist also existenziell leicht verzagt und passt damit gut rein in die Rolle des »gebeutelten Helden«. Gesprochen werden Conrads wunderbar melancholischen Voice Overs von Tom Vogt, dem Stammsprecher von u.a. Colin Firth und Laurence Fishburne. Der Rest der Dialoge ist rein textbasiert ohne Audioausgabe.
Immer diese Entscheidungen
Wir steuern Conrad aus der 2D-Ansicht, untersuchen Tatorte, indem wir in den Detektiv-Modus schalten, um Indizien erkennen und anwählen zu können, und führen Gespräche mit anderen Personen, deren Ausgang von unserer Dialogauswahl abhängt. Typisch für Noir (aber auch für den Cyberpunk) ist das pessimistische Menschenbild; Profitgier ist das höchste aller Güter und wer anderen vertraut schießt sich selbst ins Knie. Ob das auch für Lacuna gilt, hängt ganz von der eigenen Spielweise ab. Wir können der Good Guy per se sein und als soziopolitische Nervensäge alle läutern. Wir können aber auch ein Arsch sein, unsere Tochter ignorieren, die Kollegen in die Schei*e reiten etc.. Die Entscheidungen sind in Lacuna unumkehrbar, da nicht manuell gespeichert werden kann. Die Entwickler wollen also, dass wir mit den Konsequenzen leben. Manchmal fühlen sich diese Konsequenzen marginal an; dann erscheinen sie in Form von Zeitungsartikeln oder kleinen Telefonanrufen, die in die Hauptstory eingestreut werden. Ermitteln wir am Anfang den falschen Ort des Attentäters, dann rettet uns das Spiel rechtzeitig, indem es unsere Kollegin auf den richtigen Trichter kommen lässt. Mutet zunächst billig an, kann in Wahrheit aber auch dazu führen, dass wir diverse Leute nicht treffen und im schlimmsten Fall eine Schießerei ausbaden müssen. Manche Konsequenzen sind also durchaus weitreichend, führen zu Explosionen, verpassten Freundschaften und (wiederholten) Entführungen.
Cyberpunk?
Lacuna spielt in einer cyberpunk’schen Großstadt, die sinnbildlich für das Labyrinth steht, in der sich Conrad verloren und gefangen fühlt – dargestellt in einer schmucken 2D-Pixelgrafik und eingerahmt von schwarzen Leinwandbalken (nochmal ein Hint in Richtung »Film« Noir). Die Pixelgrafik mag auf den ersten Blick erst einmal spröde wirken, doch durch die Staffelung von Bildebenen, Kameraschwenks, Licht/Schatten-Spielchen und Pixel-Spiegelungen entsteht ein Eindruck von Tiefe und Lebendigkeit. Lebendig wird es auch durch das urbane Sound Design, das sowohl den oberen Ebenen mit seinen Renaissance-Gebäuden, als auch den unteren Ebenen mit seinem verranzten Paluhn-Markt das richtige Flair verpasst. Der Soundtrack stammt von Julian Colbus, der vor allem auf Jazz setzt (dominiert von Klavier und Vibraphon und diskret mit Synths unterlegt) und damit das melancholische Detective-Feeling unterstützt. Freilich hört man in den Straßen der Stadt aber auch mal pumpende Synthwave-Mucke – muss halt, gell? Trotzdem macht der Cyberpunk gar nicht so sehr den Charakter von Lacuna aus, wie man es vielleicht anfangs vermutet hätte (das zuvor erwähnte »Körpertuning« spielt z. B. kaum eine Rolle). Vielmehr bildet der Cyberpunk nur den modernen Rahmen für eine Geschichte, die so auch in der heutigen Zeit stattfinden könnte – eine Geschichte über Beziehungen, Verluste, Politik, Profitgier, Religionen, 2-Klassen-Gesellschaft und eben einen Mord.
Angenehme Rätsel, angenehme Atmo
Nimmt man alle optionalen Tätigkeiten mit, dann hat man Lacuna nach guten sechs Stunden durchgeackert. Ein Wiederspielwert ist eigentlich nur dann vorhanden, wenn man sich wirklich doof angestellt hat und keine der Fallakten richtig lösen konnte (und auch sonst alles Zwischenmenschliche versemmelt hat). Dann nämlich entlässt uns Conrad mit einem offenen Fragenkatalog und einem miesen Gefühl in die End Credits (immerhin tröstet der Abspann-Song »The Stars« darüber hinweg). Das dürfte aber in den wenigsten Fällen vorkommen, da die Rätsel – bei denen es sich immer um Kombinationsaufgaben handelt, in denen man Spuren, Mails, Dialoghäppchen etc. zusammen setzen muss – recht lockig flockig von der Hand gehen. Die Story ist klassisches Murder Mystery vor dem Hintergrund einer politischen, interplanetaren Verschwörung. Jetzt nicht das größte Dope, da relativ twist- bzw. schockarm, aber grundsolide geschrieben. In Anbetracht der Monologe, der Musik und der verstreuten Plätzchen, an denen das Spiel einem die Möglichkeit gibt, rauchend den Blick über die Stadt schweifen zu lassen, scheint es eh so, als würde Lacuna weniger auf die Krimi-Story setzen, als viel mehr auf das Erzeugen seiner ganz eigenen, lacuna’esken Atmosphäre.
Fazit
Lacuna ist ein kleines und feines Sci-Fi-Noir-Abenteuer; ein linear gespielter Murder Mystery-Fall gepaart mit politischen Intrigen, dessen Ende auf den eigenen Entscheidungen beruht. Wer knifflige Rätsel sucht, der wird hier nur bedingt fündig. Dafür gibt’s schmucke Pixelgrafik, eine sehr dufte Voice Over-Vertonung von Thomas »Nimmst du die rote oder blaue Pille?« Vogt, viel noir-typisches Rumgegrübel von einem Trenchcoat tragenden Detektiv und einen stimmigen Soundtrack inkl. duftem End Credits-Song (ist das etwa Julian Colbus himself, der da singt?). Alles in einem hat mir Lacuna sehr sinnige sechs Stunden bereitet und ist seine Erfahrung wert.
© Assemble Entertainment, WhisperGames, Mayflower Entertainment