Echtzeitalter
Bücher über Gaming (Ready Player One, Erebos, Warcross etc.) setzen häufig auf marktprognostische Erfolgsthemen wie etwa Psychospielchen, Wettkämpfe, KIs (die viel zu mächtig sind) und natürlich Superhacker. Der Roman Echtzeitalter jedoch gehört zu jener Sparte, die sich lieber mit der bodenständigen Realität befasst. Was geht im Kopf eines Gamers wirklich vor? Einer, der ein stinknormales Leben führt, der sich kompetitiv an Age of Empires II heranwagen will, gleichzeitig aber in einem versnobt-sadistischen Internat festsitzt und sowohl von seinem Lehrer fertig gemacht wird als auch von den aufwallenden Gefühlen für seine erste Liebe? Fernab von aufgeladener Sci-Fi und pastellfarbenen New Adult-Kitsch bringt der österreichische Autor Tonio Schachinger eine Coming-Of-Age-Geschichte auf den Markt, die die Antwort auf genau diese Frage liefert. In Echtzeitalter beschreibt er das Leben eines Gamers sowie den Schulalltag einer ganzen neuen Generation.
Till Kokorda, ein Junge unserer Zeit. Er besucht ein elitäres Internat in Wien, wird von einem despotischen Klassenlehrer namens »der Dolinar« drangsaliert und muss generell für sich feststellen, dass er mit dem snobistischen und latent sadistischen Umfeld nicht klarkommt. Seine geheime Passion: Computerspiele, allen voran Age of Empires II. Ohne, dass seine Mutter oder seine Klassenkameraden davon wüssten, gehört er bereits mit 15 Jahren zu den Top-10-Spielern der Welt. Doch es ist schwierig, seine Leidenschaft zwischen totalitären Lehrmethoden, Freiheitslust, der ersten Liebe und all den anderen willkürlichen Dingen, die das Leben bereithält, nicht zu verlieren.
Nur Coming-Of-Age oder doch mehr?
Originaltitel | Österreich |
Jahr | 2023 |
Typ | Roman |
Bände | 1 |
Genre | Coming of Age |
Autor | Tonio Schachinger |
Verlag | Rohwolt |
Veröffentlichung: 14. März 2023 |
Wer Echtzeitalter aufschlägt und einen üblichen Coming-Of-Age-Roman der Populärliteratur erwartet, weil im Klappentext der Begriff Age of Empires fällt, der wird schon bald feststellen, dass Tonio Schachingers Roman »anders« ist. Und auf die Gefahr hin, dass hier vielleicht einige Leser:innen türmen werden, weil sie sich in ihre Schulzeit mit dieser unsäglichen Pflichtlektüre zurückversetzt fühlen, nehmen wir den Begriff nun in den Mund: Schachingers Roman liest sich mitunter wie »Hochliteratur«. Zugegeben: ein sperriger Begriff – irgendwie reaktionär und angestaubt. Man denkt dabei an Texte aus der Zeit zwischen 1900 und 1980, die sich literarisch als so verschwurbelt und elitär entpuppen, dass kein Normalsterblicher mehr durchsteigt. Texte, die gerne für’s Abitur verwendet werden und um deren Reclam-Schlüssel sich in der Pause gekloppt wird. Aber no panic. Davon abgesehen, dass man die Hochliteratur ohnehin nicht so pauschal vorverurteilen kann, handelt es sich auch bei Echtzeitalter um alles andere als so einen angestaubten »Schinken des Todes«.
Das versteckte Genre
Natürlich hat die Hochliteratur einen gewissen Anspruch: Sie ist sowohl in stilistischen wie auch formellen Belangen innovativ und regt inhaltlich zum Denken an. Als Merkmal gilt auch, dass sie mit ihren Ideen ein ganzes Zeitalter prägt, wobei solche Klassifizierungen nicht selten recht umstritten sind. Sicher ist: Die Hochliteratur steht im Kontrast zur Populärliteratur, die formell eher in bekannten Gewässern schippert und durch die Verarbeitung aktuell beliebter Themen in erster Linie unterhalten will. Eine recht strenge Trennung der Gattungen, die ehrlicherweise auch nicht immer gültig ist, da es auch Hochliteratur gibt, die beliebte »Trivialthemen« bearbeitet sowie Populärliteratur, bei der man etwas lernen kann. Dennoch gibt es Autoren, die strickt an den Grenzen festhalten. Ian McEwan etwa, der zwar einen Roman über Künstliche Intelligenz geschrieben hat, aber jedem, der ihn einen Sci-Fi-Autor nennt, damit droht, dessen Haustier an den Couchtisch festzunageln (siehe Artikel Maschinen wie ich) – eben weil er sich in der höher gearteten Literatur sieht (wo er zweifelsohne auch hingehört) und Sci-Fi nur als ein Genre für Low-Performer betrachtet. Das führt zur Entstehung eines interessanten Sub-Genres, nach dem man aktiv suchen muss: »Versteckte Sci-Fi« in der Hochliteratur. Weitere Beispiele hierfür wären u. a. Juli Zehs Corpus Delicti oder Gioconda Bellis Die Republik der Frauen. Denkt man das weiter, dann gibt es freilich auch »versteckte Fantastik«.
Coming-of-Age für High-Performer
Und so handelt es sich auch bei Echtzeitalter um »versteckte Hochliteratur« im Genre des Coming-Of-Age. Damit meinen wir in diesem Kontext nicht, dass Schachingers Roman so »phat« ist, dass sich ganze Horden von Literaturwissenschaftler auf ihn stürzen oder er gar das Zeitalter prägt, sondern wir meinen seine Art der Darreichungsform. Schachinger schreibt stilistisch interessant, setzt auf Introspektion, fokussiert sich auf die Entwicklung interessanter Figuren und hat generell die Conditio humana im Blick, also »die Bedingungen und Umstände des Menschseins«. In diesem Falle vor dem Hintergrund des E-Sports, der ersten Liebe, von Drogen, Bildungsterror, Blowjobs, Corona, Sebastian Kurz (»I sogs glei: I woas ned«) und Youtube. Prägt Schachinger damit ein Zeitalter? Vermutlich nicht (wer weiß das schon), aber das, was das Zeitalter popkulturell und politisch prägt, greift er auf und verpackt es in einen Coming-of-Age-Roman der ganz besonderen Art. Locker-flockig reiht er Sätze und Schuljahre aneinander und gibt uns dabei Einblick in den Kopf eines Gamers. Er bietet eine Möglichkeit für Eltern, die Passion eines Zockenden zu verstehen und gleichsam eine Möglichkeit für Zockende, Verständnis für ihre Eltern aufzubringen. Und über all dem steht der österreichische Humor, der aus jedem Knopfloch von ‘dem Dolinar sein Hemd’ tropft. Echtzeitalter ist ein wirklich ganz besonderes Konglomerat.
Fazit
Mein erster Gedanke: »Wow, was ist das hier? Es geht um Gaming, Streamer, verhasste Schullektüre und Schülerinnen, die sich Rap über durchlöcherte Bitches anhören – Dinge, mit denen ich komplett relaten kann – und trotzdem liest sich das alles so derbe anspruchsvoll. Meine Generation hat wohl tatsächlich mit dem guten Schreiben angefangen, huh?« Schachingers Echzeitalter überrascht mit einem literarischen Level, das ich bei so einer Thematik nicht erwartet hätte. Ich bin kein Literaturwissenschaftler und dass wir es hier mit Hochliteratur zu tun haben (in welcher Form auch immer), ist lediglich ein Wild Guess, der meinem mit Energy gefüllten Gamer-Bauch entspringt. Aber ganz ehrlich: Ich kann mir Echtzeitalter sehr gut als moderne Schullektüre vorstellen und ich wäre froh gewesen, hätte ich in meiner Schulzeit einen solchen Gegenwartsroman analysieren dürfen. Echtzeitalter ist relatable, frotzelnd, originell, lehrreich, dreckig, pixelig und ein Muss für jeden, der genau so gerne liest wie auch zockt.
© Rohwolt
Veröffentlichung: 14. März 2023