Timeline
Filme können furchtbar eindimensional sein, wenn sie uns eine Geschichte aus nur einer Perspektive erzählen. Meist sehen, erleben und verstehen wir ausschließlich das, was der Protagonist oder die Protagonistin wahrnimmt und bewertet, kennen aber nicht das große Ganze. Selten versuchen Erzählungen dieses Gedankenspiel in ihrer Narrative zu berücksichtigen. Eine der wenigen bekannten Produktionen der letzten 20 Jahre ist 8 Blickwinkel (2008) von Pete Travis. Aus Kolumbien kommt mit Timeline ein Film, der sein Geflecht an Handlungssträngen ebenfalls aus mehreren Perspektiven erzählt, um sein narratives Komplex erst mit verstreichender Zeit Schicht für Schicht zu entblättern. Der ungewöhnliche Thriller von Yesid Leone läuft aktuell noch unter dem Radar, denn bislang hat sich kein Verleih außerhalb Kolumbiens finden lassen. Wir haben den potenziellen Geheimtipp auf dem Obscura Filmfest 2024 gesehen, wo der Film auch den Publikumspreis gewann.
Mitten in Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens, trifft der Geschäftsmann Joaquin Lara (Osvaldo de Leó, Hidden Moon – Liebe auf Abwegen) auf seine Ex-Freundin Nina (Maria Fernanda Yepes, Rosario Tijeras). Diese will das Land verlassen, um ein neues Leben außerhalb zu beginnen. Zunächst beginnt das Date ruhig, doch als Joaquin eine Reihe geheimnisvoller Textnachrichten von einem Unbekannten erhält, beginnen die Dinge aus dem Ruder zu laufen. Er wird aufgefordert, Beweise über bestimmte Personen zu veröffentlichen, die sich ebenfalls zu diesem Zeitpunkt im Restaurant befinden. Andernfalls werde Nina beim Verlassen des Lokals getötet. Es beginnt ein Katz- und Mausspiel auf Zeit, das noch weit mehr Personen involvieren wird …
Das Spiel mit den Perspektiven
Originaltitel | Linea de Tiempo |
Jahr | 2023 |
Land | Kolumbien |
Genre | Thriller |
Regie | Yesid Leone |
Cast | Nina Nadal: Maria Fernanda Yepes Joaquin Lara: Osvaldo de León Guillermo Polanco: Roberto Escobar Antonio Aponte: Carlos Congote Victoria Beltran: Ana Soler Nicolas Crovo: Alexander Guzman |
Laufzeit | 106 Minuten |
FSK | Keine Angabe |
Titel im Programm des Obscura Filmfest 2024 |
8 Blickwinkel gehört zu den bekanntesten Ablegern dieser Art von Film, in denen der Plot in einen dicken Nebel gehüllt wird, bis verschiedene Perspektiven nach und nach Licht ins Dunkel bringen. Dabei handelt es sich um eine selten angewandte Erzählform. Nicht ohne Grund: Gerne steht dabei die Idee (das „Wie“) über dem Inhalt (dem „Was“) und so wird ein einfacher Plot schnell mal künstlich aufgeblasen, ohne dass der Inhalt überzeugt. Eine Kritik, der sich auch 8 Blickwinkel stellen musste. Doch so neu ist dieses Vorgehen auf der Leinwand gar nicht. Angewandt hat diese Erzähltechnik bereits die japanische Regie-Legende Akira Kurosawa im Jahr 1950 (Rashomon). Timeline funktioniert im Grunde ähnlich: Wir haben einige Figuren, deren Abend in dem Restaurant (aber auch während der Zeit davor) begleitet wird. Diese kleinen Geschichten greifen mittels Erzählmechanik wie ein Uhrwerk ineinander, sodass bestimmte Erlebnisse erst einen Sinn ergeben, wenn wir sie aus einer zweiten Perspektive erleben. Oder es ändert sich unser Blick auf eine Figur, wenn ihre Handlungsmotivation beleuchtet wird. Ein cleveres Spiel der Perspektiven, wobei der Titel des Films hier etwas in die Irre führend ist: Streng genommen geht es nicht um die Zeit an sich (man denke da an Marvels Multiversum und was die TVA in Loki damit macht), sondern eine Verkettung von Blickwinkeln. Erfreulicherweise funktioniert das hier sogar ohne nervige Wiederholungen von bereits Gesehenem.
Verknotete Handlungsstränge
Die einzelnen Geschichten in Timeline sind stets so ausgelegt, dass sie auf dramatische Höhepunkte zulaufen, die ein weiteres Ereignis entfesseln. Das sorgt für Spannung und hält bei Stange, denn die Vorgehensweise erfordert unsere volle Aufmerksamkeit. Hat man einen Hinweis übersehen, läuft man Gefahr, nicht mehr alles zu verstehen. Daraus lässt sich schlussfolgern: Dies ist kein Titel, den man so nebenbei konsumiert, während man mit einem Auge auf dem Smartphone hängt. Insgesamt sechs Figuren dienen als unser Fernglas, wobei die einzelnen Stränge weitere Figuren und Dialogpartner:innen mit sich bringen. Im Restaurant befinden sich weitaus mehr wichtige Akteure als zu Beginn bekannt ist. Das Erzählpuzzle umfasst also mehrere Geschichten und Handlungsträger:innen, was schnell dazu führen kann, die Übersicht zu verlieren. Dass am Ende alles aufgeht, ist dem clever konstruierten Drehbuch anzurechnen, das um Transparenz und Ordnung bemüht ist.
Hohe Produktionswerte treffen auf Telenovela
Die Handlung spielt überwiegend in einem edlen Restaurant – was vor allem für das Auge angenehm ist. Das gilt auch für den Cast, der ausschließlich aus attraktiven Personen in allen Altersgruppen besteht. Ein bisschen wie in einer Soap, aber zu diesem Punkt kommen wir gleich noch. In Timeline ist quasi nichts dem Zufall überlassen: Alles ist sehr durchdacht, sehr clean und auf Hochglanz und Ästhetik getrimmt. Das mag stellenweise überproduziert wirken, will man den Verantwortlichen doch ständig zurufen, dass Perfektion nicht das Ziel ist und es auch gerne mal zwischendurch locker oder weniger überstilisiert zugehen darf. Grundsätzlich ist es aber sympathisch, wie ambitioniert der Film vorgeht und wie ernst er sein Vorhaben nimmt. Was für europäische Verhältnisse ungewöhnlich sein kann, ist die Dichte an Dramatik. Hier kommen wir noch einmal zum Begriff der Soap: Timeline besitzt einen Telenovela-Charakter, der sich kaum abstreifen lässt. Eine typische Eigenschaft von Produktionen aus Südamerika, die einen erhöhten Anteil an Charakterdrama ausweisen, die wir jedoch weniger aus dem Kino, sondern eher aus Vorabendserien kennen. Da gibt es dramatische Wendungen, schicksalhafte Begegnungen, fordernde Blicke, unerwartete Geschehnisse, unterdrückte Gefühle, Intrigen und Machenschaften. Von allem etwas. Ein thematischer Cocktail aus Lateinamerika, der gewöhnungsbedürftig ist – und zumindest in dieser Fülle nicht unbedingt unseren Sehgewohnheiten entspricht, schon gar nicht in einem Genrefilm. Das gehört hier eben zu den Regeln, wenn man sich auf den verschachtelten Thriller einlässt.
Fazit
Timeline ist ein ehrgeiziges Filmprojekt, das mit tollen Produktionswerten daherkommt. Der Thriller braucht den internationalen Vergleich nicht zu scheuen. Im Gegenteil: Er macht eine bessere Figur als ein Großteil anderer Genre-Produktionen, die auf Netflix und anderen Streamingdiensten zu sehen sind. Und nun wird es paradox: Man muss sich darauf einlassen, sich auf den Film einzulassen. Mit voller Aufmerksamkeit am Ball bleiben, gedanklich eine Struktur zusammenbauen und auch hier und da einige Ereignisse einfach als gegeben hinnehmen können. Diese Form des Abverlangens funktioniert nicht unbedingt bei jeder Zuschauergruppe, sondern bei jenen, die einen Stoff durchdringen wollen. Dann wird man mit feinen Actionszenen und einer Menge Thrill belohnt, die zu keinem Zeitpunkt auch nur einen Hauch Langeweile aufkommen lassen. Es bleibt zu hoffen, dass der Film eine internationale Bühne erhält. Denn nicht alle Filme aus Kolumbien müssen Drogen zum Gegenstand haben.
© Resplandor Films, Silverwolf Studios