Der Flüssige Spiegel

Der flüssige Spiegel ist ein fantastischer Film, aber ohne Drachen und Schwerter. Ein Film mit Geistern, aber ohne Grusel. Am nächsten kommt vielleicht Wim Wenders’ Der Himmel über Berlin. Oder diese Filme kurz nach dem Krieg, als die Franzosen fantastisch-poetische Filme über Liebe und Tod machten. Wie etwa Orphée von Jean Cocteau oder Das Spiel ist aus nach dem Roman von Jean Paul Sartre. Von Orphée, Cocteaus Adaption des Orpheus-Mythos hat sich der Titel (im Original “Vif-Argent, zu deutsch “Quecksilber”) das Bild einer quecksilbrig-flüssigen Spiegelfläche geborgt, durch die man zwischen der Welt der Lebenden und der Toten hin und her wechseln kann. Am 3. September 2020 kommt die Produktion in die deutschen Kinos.

 

Juste (Thimotée Robart, L’indifférence du temps) kommt in einer nächtlichen Pariser Parkanlage zu sich und weiß nicht, wie er dorthin gekommen ist. Auf die Fragen der hilfsbereiten Frau im weißen Kittel (Saadia Bentaïeb, Nach einer wahren Geschichte) kann er nur immer wieder antworten, dass alles wieder normal sein soll. Nicht wie jetzt, wo er das Gefühl hat, unsichtbar zu sein. Aber er sitzt nicht in der Notfallambulanz des sozialpsychiatrischen Dienstes. Sondern in einer Verwaltungseinheit des Jenseits. Juste ist tot, ein Geist, und seine Aufgabe wird es sein, den Seelen gerade Verstorbenener beizustehen. Die stehen fassungslos am Schauplatz ihres Todes und haben noch nicht begriffen, dass sie tot sind. Juste gibt ihnen die Gelegenheit, ihm den wichtigsten Moment ihres Lebens zu erzählen, dann gehen sie friedlich mit der Frau im weißen Kittel ins Jenseits hinüber. Für Lebende bleibt Juste unsichtbar. Doch dann kann Agathe (Judith Chemla, Ein Leben) ihn sehen, denn er erinnert sie an den jungen Mann, mit dem sie einst den intensivsten Moment ihres Daseins erlebte. Für einen kurzen Moment sind sie in der Welt der Lebenden in Liebe vereint, dann trennen ihre Wege sich wieder …

Mal sichtbar, mal unsichtbar

Originaltitel Vif-Argent
Jahr 2019
Land Frankreich
Genre Fantasy, Romanze
Regie Stéphane Batut
Cast Juste: Thimotée Robart
Agathe: Judith Chemla
Kramarz: Saadia Bentaïeb
Alpha: Djolof Mbengue
Balo: Marie-José Kilolo Maputu
Laufzeit 104 Minuten
FSK
Ab dem 3. September 2020 im Kino

In der Welt von Der flüssige Spiegel existieren Lebende und Tote nebeneinander, aber sie bemerken es nicht. Die Lebenden können die Toten nicht sehen, die Toten sehen die Lebenden nicht. Nur einige geheimnisvolle Wesen wandern zwischen den Welten hin und her, sind mal sichtbar, mal unsichtbar und können Wesen sehen, die andere nicht sehen können. Die Dame im weißen Kittel mit dem sperrigen Namen Kramarz. Der afrikanische Schneider Alpha (Djolof Mbengue, Aujourd`hui), der statt Seelen zu geleiten, gegen alle Regeln mit seiner sehr lebendigen Frau ein bescheidenes Mode-Atelier betreibt. Und Juste, der offenbar noch etwas zu verarbeiten hat, bevor er weitergehen kann. Auch die Magie der Liebe kann diese Regeln durchbrechen. Manchmal. Oder auch nicht. Aber das verrät einem der Film nur nach und nach. Erst einmal wirkt alles sehr rätselhaft und lässt den Zuschauern mit poetischen, aber widersprüchlichen Bildern zurück, auf die er sich selber einen Reim machen muss.

Paris, mal schäbig, mal hochästhetisiert

Im Mittelpunkt von Der flüssige Spiegel steht natürlich die Liebesgeschichte von Juste und Agathe zwischen Diesseits und Jenseits. Aber der Film hat auch einen heimlichen Hauptdarsteller: Paris. Genau gesagt, das Paris des 19. Arrondissements, einem Stadtteil, der stark von afrikanischen Zuwanderern geprägt ist. Straßen mit buntgemischter Bevölkerung, kleinen Läden, Altbauten, einem Park, in dem Parties gefeiert werden. Tagsüber sieht das ein wenig heruntergekommen, aber authentisch und quicklebendig aus. Nachts verfremden intensive rote oder blaue Strahler die Stadtlandschaft zu artifiziellen Lichträumen und tauchen den durch die Straßen irrenden Juste in grelle Primärfarben, während seine schwarze Paillettenjacke glitzernd reflektiert oder sein gelbgeblümtes Hemd je nach Licht die Farbe wechselt. Ein wenig zuviel der Ästhetik, aber zu den surrealen Geschehnissen passt es.

Fazit

Der flüssige Spiegel ist ein Film, den man vielleicht mehrfach sehen muss, um zu verstehen, was eigentlich vorgeht. Dafür glänzt er ganz unmittelbar mit poetischen Momenten, großen Emotionen und ästhetischen Bildern. Und er lässt Paris einfach umwerfend aussehen, ohne Hochglanzbilder für Tourismusbroschüren zu produzieren. Hach, jetzt möchte ich in einer Dachgeschosswohnung im 19. Arrondissement wohnen und mich bittersüß in einen rätselhaften jungen Mann verlieben.

© Film Kino Text

wasabi

wasabi wohnt in einer Tube im Kühlschrank und kommt selten heraus.

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