Benedetta
“Immodest Acts – The Life of a Lesbian Nun in Renaissance Italy”. Welch ein sperriger, langer Titel. Aber so vielsagend. Dachte sich Skandalregisseur Paul Verhoeven (RoboCop) vermutlich ebenfalls und kürzte seine Aufarbeitung des historischen Skandals mit dem Titel “Benedetta” ab. Denn eines ist sicher: Steht Paul Verhoeven namentlich als Regisseur drauf, ist alles möglich. Von der feinfühligen und vielschichtigen Erzählstruktur bis hin zur kindlichen Freude mit Sex und Gewalt zu provozieren. Oder schlicht einem hölzernen Dildo aus einer Marienstatue. Benedetta erschien am 24. Februar 2022 auf Blu-ray und DVD.
Die Toskana, im leidgeprüften Italien während des 17. Jahrhunderts, in dem die Pest wütet und sich gnadenlos ausweitet. Benedetta Carlini (Virginie Efira, Sibyl) tritt als Novizin in ein Kloster in Pescia ein. Ihr Vater geht einen Kuhhandel mit dem Kloster ein, was billiger ist als eine Mitgift bei einer Heirat. Da ist die Hochzeit mit Gott sinnvoller. Noch auf dem Weg dorthin begegnet Benedetta Bartolomea (Daphné Patakia, Djam) und ist sichtlich fasziniert von der frivolen jungen Dame, die völlig befreit vom Korsett der Etikette redet und handelt. Im Kloster kommt es zu einem geistlichen Wunder: Benedetta sieht in Visionen Jesus, als verführerischen Haudegen, der sie rettet. Benedetta schockiert und versetzt die katholische Kirche in Aufregung, als die Wundmale Christi an ihrem Körper auftreten. Trotz anfänglicher lauten, aber verstummenden Zweifeln an der Echtheit der Stigmata steigt Benedetta als „Auserwählte Gottes“ auf. Damit kann sie durch alle Privilegien, die dieses Amt mit sich bringt, ihre lesbische Beziehung zu Bartolomea ausleben. Doch jede Feier findet ein Ende.
Kein bisschen leise, aber auch kein bisschen subtil
Originaltitel | Benedetta |
Jahr | 2021 |
Land | Frankreich |
Genre | Drama |
Regie | Paul Verhoeven |
Cast | Benedetta Carlini: Virginie Efira Schwester Felicita: Charlotte Rampling Bartolomea: Daphné Patakia Nuntius: Lambert Wilson Alfonso Cecchi: Olivier Rabourdin Christina: Louise Chevillotte |
Laufzeit | 131 Minuten |
FSK | |
Veröffentlichung: 24. Februar 2022 |
Paul Verhoeven, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Benedetta bereits stolze 83 Jahre, meldet sich nach fast fünf Jahren Bildschirmabstinenz zurück. Nach Flesh + Blood, Basic Instinct, Showgirls, Black Book und zuletzt dem gefeierte Erotik-Thriller Elle mit schwerer Vergewaltigungsthematik widmet er sich nun mit Benedetta den klerikalen Machtstrukturen und seinem erklärten Feindbild – der katholischen Kirche. Freunde und Fans Verhoevens verwundert es nicht, dass er dabei visuell nicht zimperlich oder gar subtil vorgeht. Schnell wird deutlich, was Benedetta als Film anprangert: die Kirche und ihren Geschäftssinn sowie Machtstruktur. Gleich ist eben nicht gleich und schon gar nicht gleichgestellt. Wo ein Geschäft zu machen ist, wird es gemacht – sexuelle Frommheit predigen, aber gleichzeitig das gefühlt zehnte Kind mit der Pfarrersköchin gezeugt? Es mag wenig überraschen, aber die katholische Kirche hat sich im Jahr 2022 noch immer nicht von der verkrusteten Struktur der Intransparenz und Verschwiegenheit gelöst. Aktuelle Aufarbeitungen von Missbrauchsfällen verlaufen schleppend, es wird an höchster Stelle gelogen – um das Vertrauen ist es schwer bestellt.
Die klerikalen Machtstrukturen am Pranger
Verhoeven genießt es offensichtlich, den realen Fall von Benedetta Carlini (1590–1661) mit klassischen Zutaten des Exploitation-Kinos in die Mangel zu nehmen und seinen Stempel aufzudrücken. In Benedetta geht Verhoeven alles andere als zimperlich mit dem Thema der aufkeimenden sexuellen Neugier und Lust innerhalb der kirchlichen Mauern um. Die Kirche verdammt im Prinzip unter dem Begriff Sodomie jegliche Sexualpraktik, die nicht der Vermehrung diente. Sei es nun Selbstbefriedigung oder Analverkehr. Ehebruch oder Vergewaltigung galten daran gemessen als weniger schlimm, weil sie doch den Fortpflanzungszweck erfüllten. Kurz, aber kraftvoll präsentiert Verhoeven diesen heutzutage kaum zu verstehenden Gedankenstrang in Person von Bartolomea. Von Vater und Brüdern vergewaltigt, fürchtet niemand für so eine Tat zur Verantwortung gezogen zu werden.
Sex sells, Sünde verkauft
Die erotische Spannung zwischen Benedetta und Bartolomea hätte Verhoeven auch in leisen Zwischentönen einfangen können und seine brillanten bis hin gefürchteten Gewaltexzessen innerhalb der Mauer des Klosters oder Visionen Benedettas zelebrieren können. Doch hier wird geklotzt statt gekleckert. Verhoeven hält die Kamera drauf, wenn sich zwei junge Menschen der Neugier hingeben und alles Mögliche zur Befriedigung zweckentfremden. Der Sünde in der sich das Paar befindet, ist sich Verhoeven bewusst und spannt den Bogen für den Zuschauer mit der spannenden Frage: Wie kamen die Stigmata zustande und warum interessiert die Kirche die sexuelle Handlung mehr als die eigentliche Aufklärung? Durch dieses doppelbödige Drama entwickelt sich zwischen allen vorhandenen Figuren eine Dynamik, die unterschiedlicher nicht sein kann.
Mehr als bloßer „Exploit-ism“
Für den bloßen Voyeur unter den Zuschauern eröffnet sich die sexuelle Spannung (und vielleicht sogar schon fast plumpe „Sexploitation“), für den Verhoeven-Fan kommen mehr als einige Szenen vor, in denen Gewalt im Vorbeigehen eskaliert und unangenehme Fragen nach dem Warum aufwerfen. Doch bleibt mit fortlaufender Dauer der Strang von dem Aufstieg einer jungen Frau, die sich zielstrebig an die Spitze einer Männerdomäne kämpft. Verhoeven überlässt es dann doch dem Publikum, ob und welche Mittel von Benedetta benutzt wurden und sie nicht die Leichen auf dem Weg dorthin zu verantworten hat.
Doppelter Boden
Verhoeven hat gar nicht die Lust zu erklären, was genau passiert. Sex, Völlerei, Folter, Hass, blinder Gehorsam, Unterdrückung. Er präsentiert den Fall mit schierer Angeberei, Provokation und überzeichneten Figuren, auf allen Seiten. Dies unterstreicht der Look des Films. Steril, sauber, hölzern – fast schon trashig und an Hexenjagd-Filme (Hexen bis aufs Blut gequält) erinnernd. In besonderen Szenen setzt Verhoeven auf farbiges Setting, das surreal anmutet, nur um in der Sekunde darauf die Willkür des kirchlichen Handelns, aber auch Benedettas, hervorzuheben. Sein Film ist alles – plump, billig, eventuell sogar irgendwie banal in der Erzählweise der Geschichte – doch in keiner Sekunde langweilig oder handlungsarm. Das hat Verhoeven bewiesen. Unter all der visuellen Provokation versteckt er gekonnt viele, viele Fragen, die den Zuschauer erst bei genauem Hinschauen anspringen können, aber nicht müssen.
Fazit
Benedetta ist ein Film, der unterschiedliche Reaktionen hervorzurufen vermag: Von „Schrott“ über „wie Männer Lesben sehen“ bis hin zu „und wozu müssen wir den Dildo sehen“. Dabei gerät schnell in Vergessenheit, dass sich Verhoeven bis auf das Ende relativ stringent an die Überlieferung aus Das Leben einer lesbischen Nonne in Italien zur Zeit der Renaissance hält. Für den Zuschauer mag es grotesk wirken, wenn Benedetta als Äbtissin mit „Jesus“ eine dreistündige Hochzeit feiert und zufällig in Wut in fremden Zungen redet und sich damit Gehör verschafft. Das angebliche Wunder wird lange nicht hinterfragt und dadurch begünstigen Kloster und Kirche das Geschehen. Ein Umstand, der filmisch im Endeffekt nichts anderes als sexuelles Erwachen ist. Und damit Gefühle, die in der Kirche verdammt sind, hervorruft. Wer sich dieses vor Augen hält und sich darauf einlässt, dürfte sich trotz berechnender und stellenweise arg konstruierter visueller Provokation überrascht unterhalten fühlen. Denn Verhoeven mag mit 83 schon vieles gedreht haben und vermag mit Benedetta vielleicht mehr zu provozieren als mit Showgirls und Basic Instinct. Denn auch das Publikum hat sich seitdem weiterentwickelt.
© Koch Media
Veröffentlichung: 24. Februar 2022