Nach dem Verstand einfach geradeaus
Mit Verstand kommt man bekanntlich weiter, doch was passiert, wenn sich besagter Verstand einfach so verabschiedet und sich eine Auszeit unter Palmen gönnt? Diese Frage beantwortet Anna Buchwinkel in ihrem am 1. März 2021 erschienenen Roman Nach dem Verstand einfach geradeaus. Sie schickt ihren Helden Quentin Finkenwinkel – völlig unberührt von dem, was um ihn herum passiert – auf die Suche nach seinem entflohenen Verstand und nimmt gleichzeitig ihre Leserschaft mit auf die humorvolle Suche nach der Sinnhaftigkeit des Lebens. Könnte die Antwort in einer einzelnen Socke liegen, die ihren Partner verloren hat?
Als dem 42-jährigen Quentin Finkenwinkel im Weihnachtstrubel der Verstand abhanden kommt – er verabschiedet sich einfach an den Traumstrand auf einem Bildschirm in der Medienabteilung eines Kaufhauses –, beginnt sich Chaos um den Angestellten im Bundesamt für Statistik herum auszubreiten. Während Quentin sich auf die Suche nach seinem Verstand macht und das Leben ungefiltert kennenlernt, haben seine scheinbar sinnlosen Aussagen und Aktionen unterschiedlich große Auswirkungen auf die Menschen um ihn herum. Ist es zunächst nur die Familie, die sich mit ungewöhnlichen Weihnachtsgeschenken und einer überraschenden Entdeckung konfrontiert sieht, kommen im Laufe des Geschehens Menschen mit Quentin in Berührung, auf die seine erfrischend ehrliche Art belebend wirkt. Und Quentin selbst hält nichts mehr in der Sicherheit seines bisherigen Daseins, er reist zunächst nach Kuba, dann geht es weiter nach Indien und Goa. Auf dieser Reise erlebt er mehr, als er jemals in seinem verstandkontrollierten Leben erlebt hat, während sein Verstand selbst am Traumstrand die Auszeit genießt.
Ein Mann, zwei Perspektiven
Originaltitel | Nach dem Verstand einfach geradeaus |
Jahr | 2021 |
Land | Deutschland |
Genre | Roman |
Bände | 1 |
Autorin | Anna Buchwinkel |
Verlag | Piper |
Veröffentlichung: 1. März 2021 |
Anna Buchwinkels Held Quentin wird den Lesenden aus zweierlei Perspektiven vorgestellt. Zum einen ist da Quentin selbst, ohne Verstand und damit ohne Verständnis für das Ungewöhnliche, was in sein Leben Einzug gehalten hat. Als Statistiker hat er ein unaufgeregtes, geregeltes Leben hinter sich, aus dem er bisher keinen Grund sah auszubrechen. Ohne Schutz prallt er nun auf die Welt – oder diese auf ihn. Er lebt im Hier und Jetzt, kompromisslos, unschuldig und unbedarft. Und er erlebt eine ganze Menge, dieser aus seinem geordneten Alltag herausbeförderte Mann und kennt nur eine Richtung. Da ist der Buchtitel “Nach dem Verstand einfach geradeaus” Programm. Zum anderen kommt Quentins Verstand zu Wort, der an einem Traumstrand Zuflucht gesucht hat. Dieser gibt Einblicke in die gemeinsame Vergangenheit und schildert sachlich ihrer beider Erfahrungen mit ihrem Umfeld und die Lehren, die der Verstand daraus gezogen hat, um Quentin und damit auch sich selbst in einer unberechenbaren Welt größtmöglichst zu schützen.
Wenn das Internet in Fahrt kommt
Parallel zu Quentins Abenteuern und den Rückblicken durch seinen Verstand wird eine weitere Geschichte erzählt, die im Bereich Soziale Medien angesiedelt ist. Nachdem der verstandlose Quentin sich mit Berechnungen zu einzeln auftretenden Socken beschäftigt und die entsprechende Statistik samt Schlussfolgerungen an die Presse weitergeleitet hat, bekommt er zunächst nur Ärger im Büro. Doch wie ist das mit dem Stein, der ins Wasser fällt? Quentins in aller Ernsthaftigkeit ausgeführte Statistik erregt das Interesse der Öffentlichkeit. Zunächst belächelt, ist diese Statistik der Boden, auf dem die Aktion „Jeder ist anders – jeder ist wertvoll“ wächst und immer mehr Blüten treibt, als Quentin nach mehreren undurchdacht scheinenden Aktionen auf seiner Reise in die Welt hinaus einen Blog führt, in dem er seine Erlebnisse und Sichtweisen aufschreibt. Die Reaktionen der Lesenden reichen von Unverständnis bis hin zu völliger Begeisterung, ihr Leben zu verändern; eine Entwicklung, wie sie im Internet öfter aufzufinden ist.
Die unterschätzte Wirkung einer Einzelsocke
Der heimliche Star des Romans ist zweifelsohne die einzelne Socke. Wer hätte gedacht, dass dieser einfache Alltagsgegenstand in der Lage sein kann, Menschen zusammenzubringen, Begeisterung zu entfachen, Ideen zu fördern und die Welt zu einem bunteren Ort zu machen? Die statistisch untermauerte Philosophie hinter dem Gedanken, dass eine Socke auch ohne ihr passendes Gegenstück durchaus ihren Wert hat und auch nicht zusammenpassende Dinge ihren Zweck erfüllen können, wirkt absolut nachvollziehbar und alltagstauglich. Und wenn eine Socke auch als Einzelstück wichtig ist und eine Existenzberechtigung besitzt, trifft dieser Gedanke umso mehr auf Menschen zu, die nicht der Norm zu entsprechen scheinen. Körperliche Einschränkungen, gering ausgebildete soziale Kompetenzen oder ungewöhnliche Lebensweisen passen nun mal nicht gut in eine geordnete, überschaubare Lebensweise. Doch wer sich darauf einlässt, außerhalb der Norm zu denken und sich und andere so zu akzeptieren, wie sie sind, für den hält das Leben überraschende Erkenntnisse bereit. „Jeder ist anders – jeder ist wertvoll“ trifft auf alle zu, auch auf diejenigen, die meinen, sie sind eigentlich nichts Besonderes.
Eigentlich ganz normale Helden
Nach ihrem Erstlingswerk Nach dem Tod gleich links erzählt Autorin Anna Buchwinkel in Nach dem Verstand einfach geradeaus wieder Geschichten um Sinnsuche und Selbstfindung und darum, dass das Leben manchmal seltsame Wendungen nehmen kann. Ihre Helden sind normale Menschen wie du und ich, und ihre Heldentaten bestehen darin, den Anforderungen des Alltags mit mitunter ungewöhnlichen Methoden zu begegnen. War es in Nach dem Tod gleich links die Endfünfzigerin Else, die für einen Schlagersänger schwärmt und sich zu dessen Rettung selbst mit dem Tod anlegt, so ist es hier der 42-jährige Quentin auf der Suche nach seinem ausgerückten Verstand, da er nichts mehr besitzt, was ihm die Welt erklärt. Anders als Else legt Quentin sich allerdings nicht mit dem Übernatürlichen an. Seine Abenteuer finden in der realen Welt statt, alles, was darüber hinaus geht, kann den Drogen zugesprochen werden, die er hier und da in aller Unschuld konsumiert. Einfache Menschen also, doch dank Anna Buchwinkels Talent, mit passenden Worten authentische Charaktere zu erschaffen und Orte plastisch vor Augen erstehen zu lassen, wird ein Alltagsabenteuer daraus, welches nicht nur auf die Personen in ihrem Buch beschränkt ist.
Fazit
Es war mir ein Vergnügen, Nach dem Verstand einfach geradeaus zu lesen. Anna Buchwinkels verstandbefreiter Held Quentin ist eine wunderbar liebenswerte Figur und seine Erlebnisse ohne Verstand sowohl lustig als auch herzerwärmend. Aber auch der Verstand ist greifbar, er wirkt fats wie eine eigenständige Person. Seine Berichte besitzen einen hohen Wiedererkennungswert und die Entscheidungen sind logisch nachvollziehbar. Und während Quentin seinen abhanden gekommenen Verstand sucht, weil ihm irgendwie klar ist, dass es ohne nicht so ganz geht, stoßen seine Abenteuer bei dem einen oder der anderen auf Fragen nach dem Sinn des Lebens, die vielleicht schon länger darauf warten, beachtet zu werden. Insofern ist dieser Roman für Sinnsuchende gut geeignet geeignet, doch auch Lesenden, die einfach nur Spaß an einer humorvollen, facettenreichen Geschichte haben möchten, kann ich Quentins Geschichte wärmstens empfehlen.
© Piper
Veröffentlichung: 1. März 2021