Kino’s Journey

“Der Weg ist das Ziel” oder “Destination is a State of Mind” sind Sprichwörter, an denen etwas Wahres ist: Denn oft ist eine nebenbei erlangte Erkenntnis ein größerer Gewinn als das, was das augenscheinliche Ziel ist. So ergeht es auch mit Kino, der Hauptfigur aus Kino’s Journey, ein Reisender. Ganz alleine ist Kino nicht, denn Reisegefährt, ein Motorrad namens Hermes, kann sprechen und erweist sich als Gesprächspartner auf Augenhöhe. Klingt zunächst absurd, doch hinter diesem Anime verbirgt sich eine der philosophischsten Serien Japans.

  

Kino und Hermes verbringen drei Tage in jedem Land, das sie auf ihrer Reise besuchen. Dabei treffen sie auf unzählige Menschen, die nicht nur alle eine besondere Geschichte zu erzählen haben, sondern auch unterschiedliche Probleme mit dem Land, in dem sie leben, haben. Kino und Hermes nehmen dabei meist eine rein beobachtende Position ein, während die Begegnug für die jeweiligen Gastgeber ein einschneidendes Erlebnis in ihrem Leben darstellt. Nicht immer sind diese Probleme sichtbar oder deren Lösungen nahe, doch als intelligenter Beobachter lernt Kino über das faszinierende Wesen des Menschen.

Essentielle Fragen des Lebens

Eine Serie ganz ohne Plot oder roten Faden kommt nicht häufig vor. Kino’s Journey ist eine solche Episodenerzählung, die in der Regel damit beginnt, dass das ungewöhnliche Duo auf einen Menschen trifft, der ihnen mit einem individuellen oder einem Problem des Landes konfrontiert. Die gesellschaftliche Relevanz ist meist gegeben, sodass Kino die Situation zunächst reflektieren muss und im Gespräch mit Hermes manchmal einen neuen Blickwinkel einnimmt. Dieser wirft oftmals essentielle Fragen des Lebens auf: Wie kann eine Gesellschaft funktionieren, die von Maschinen eingenommen ist? Was würde passieren, wenn alle Menschen ihre Arbeit niederlegen? Wie funktionieren zwischenmenschliche Bindungen, wenn jeder zu jedem ehrlich ist und es keine Lügen gibt? Ist es in Ordnung, blutige Kämpfe zu führen, um die Schaulust der Menschen zu stillen? Die Fragen, die hier aufgeworfen werden, sind irgendwo in der Menschheitsgeschichte verwurzelt, doch wurden sie selten so plastisch und dreidimensional dargestellt.

Philosophie-Diskurs mit wechselnden Genres

Originaltitel Kino no Tabi
Jahr 2003
Episoden 14
Genre Slice of Life, Abenteuer
Regisseur Takashi Watanabe
Studio ACGT

Die Genres können je nach Geschichte wechseln, sodass ein breites Spektrum verschiedener Settings abgedeckt wird: Western, Science-Fiction, Fantasy und Abenteuer. Kino, zu Beginn noch ein unbeschriebenes Blatt, wird erst im Laufe der Erzählung für den Zuschauer greifbar und entwickelt langsam Persönlichkeitszüge. Nur eine Folge der Serie befasst sich mit der Vergangenheit Kinos und beantwortet die eine oder andere bis dahin aufgekommene Frage. Auch, wenn sich Kino nicht in jede Angelegenheit einmischt, besitzt die Figur moralische Werte und vertritt ihre Prinzipien. So wünscht sich Kino manchmal triviale Ansichten, wie etwa, dass Menschen, die Hilfe empfangen, diese auch andere weitergeben sollten. Ansichten, die zunächst selbstverständlich erscheinen, doch im Kontext mit den Begegnungen auf die Probe gestellt werden. Damit sich das Konzept nicht zu schnell abnutzt, wurde in die Mitte der Serie auch eine Doppelfolge gebettet, die vornehmlich auf Action ausgerichtet ist und Kinos Kampffähigkeiten demonstriert. Dabei ist auch aus erzähltechnischer Sicht die eine oder andere Überraschung vertreten, wenn im Verlauf eine Person erschossen wird, bei er man ein Ableben nicht erahnt hätte.

Von außen stark gealtert, von innen zeitlos

Die 2003 in Japan ausgestrahlte Serie erschien bereits nach drei Jahren unter dem Label ADV Films in Deutschland. Eine für damalige Lizenzierungsgeschwindigkeit beachtlich kurze Zeit. Bereits zu diesem Zeitpunkt konnte die Qualität der Serie nicht mit aktuellen Produktionen mithalten. Die Animationen wirken altbacken und statisch, was vor allem in Actionszenen, manchmal aber bereits in vermeintlichen Kleinigkeiten wie Tanzszenen negativ auffällt. Die Serie tritt mit matter Farbgebung auf, was zwar zu dem insgesamt ernsten Tonus passen mag, doch dadurch auch schneller gealtert ist. Das sollte allerdings keinen Grund darstellen, sich diesen Titel zu entgehen lassen, da philosophische Ansätze nur selten in Animes derart ausführlich behandelt werden. Themen wie Zensur sind im Zuge der Digitalisierung aktueller denn je.

Schwere Kost? Nein, Light Novel

Eine Serie mit Substanz ist Kino’s Journey allemal. Dabei basiert die Geschichte auf einer Light Novel, also einer Romanreihe mit einfach zu lesenden Geschichten. Der Autor, Keiichi Sigsawa, war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des ersten Bandes gerade einmal 28 Jahre alt, als er seinen Durchbruch erlangte. Seitdem wurden mehr als 20 Bände in Japan veröffentlicht. Die deutsche Veröffentlichung bei Tokyopop wurde nach vier Bänden eingestellt. In Japan war Kinos Reise ein durchschlagender Erfolg: Auf die Romane folgten die 14-teilige Animeserie, ein Kinofilm, Hörspiele und ein Spiel für die PlayStation 2. Dass der Stoff auch nach Jahren noch immer gefragt ist, zeigt sich auch an einer weiteren Anime-Adaption im Herbst 2017. Obwohl die Veröffentlichung des ersten Animes ganze 14 Jahre zurückliegt, ist die Nachfrage nach Stoffen mit Tiefgang und Philosophie ungebrochen.

Kino’s Journey ist ein wahres Goldstück. Obwohl die Serie inzwischen viele Jahre auf dem Buckel hat, erschienen seitdem nur wenige Serien, die es intellektuell mit diesem Anime aufnehmen können. Dabei ist nicht nur die distanzierte Herangehensweise Kinos vorbildlich, sondern auch die Charakterisierung selbst so mancher Nebenfigur exzellent, wie sich an der Figur Nimya zeigt. Herrlicher Charakter. Nimya ist eine Revolutionärin, doch Menschen wie sie, die gerne verspottet werden, können dennoch Unglaubliches erreichen, wenn sie sich davon nicht beirren lassen. Dialoge wie etwa ein Diskurs über Kriterien darüber, wann jemand etwa eine Hauptfigur ist und wann er zur Nebenfigur wird, unterstreichen die Intention des Autors, dass Eigenwahrnehmung und äußerliche Sicht durchaus auch kollidieren dürfen. Es ist immer eine Frage der Betrachtung und nicht immer muss sofort eine Meinung gebildet werden um zu einer Erkenntnis zu gelangen.

 

Zweite Meinung:

Kino’s Journey ist keine ganz einfache Animekost. Aufgrund der nur lose zusammenhängenden Episoden und des stark philosophischen Ansatzes, verlangt der Anime einiges von seinen Zuschauern ab. Zeichnerisch wird, auch wenn man die Serie in ihren zeitlichen Entstehungskontext einordnet, recht wenig geboten. Was jedoch System hat; soll doch die Botschaft im Mittelpunkt stehen. Allerdings macht es sich der Anime dadurch natürlich schwer, eine empathische Brücke zum Zuschauer zu schlagen. Aber an dieser Stelle werden Hermes und Kino geschickt instrumentalisiert, um dem entgegenzuwirken. Auf der einen Seite dienen beide dazu, mit ihren sprachlich einfach gestrickten Dialogen einen Einstieg in die komplexen Themen der Folgen zu finden. Auf der anderen Seite sind beide auch Sympathieträger und sorgen so dafür, dass der Zuschauer doch nicht ganz so nüchtern und distanziert auf die Dinge blickt.
Damit hat Kino’s Journey am Ende auch mich eingefangen. Ich tue mich mit Werken, die dem Zuschauer bei der Interpretation und Reflexion des Gesehenen kaum bis keine Leitlinien geben, häufig schwer. Von daher haben Kino und Hermes mir einen besseren Zugang zu der Handlung verschafft und mich dazu gebracht, mitzudenken und gleichzeitig den Spaß nicht zu verlieren. So kommt es nur sehr selten vor, dass mir der Zugang zu den aufgeworfenen Fragen und Thesen, welche bisweilen geschickt in Textzeilen festgehalten werden, verwehrt blieb. Dadurch dass der Anime eine gewisse Vertrautheit zu Kino und Hermes aufbaut, treffen den Zuschauer auch die schmerzhafteren und aufwühlenden Erkenntnisse, welche Kino auf den Reisen machen muss, deutlich härter und regen dadurch umso mehr zum Nachdenken an. So werden nicht nur gesellschaftliche Fragen aufgeworfen sondern zugleich die menschliche Psyche, welche gerade der Nährboden ist, auf welchem sich jegliche Gesellschaftsform entwickeln muss, beleuchtet. Kino’s Journey ist somit ein Anime, den man mit Recht als zeitlos bezeichnen kann. Die Botschaften und Denkanstöße werden anders als Zeichenstile und Animationen auch noch in 20 oder 30 Jahren aktuell sein. Sicher ist die Serie nicht für jeden etwas und man muss auch bereit sein, sich auf sie einzulassen. Wenn diese Voraussetzungen jedoch erfüllt sind, wird man mit Kino’s Journey ein ganz besonderes Erlebnis haben.

Dritte Meinung:

Der Ausdruck “Der Weg ist das Ziel” beschreibt ganz gut, worum es in dieser Serie geht. Jede Folge zeigt eine neue Stadt, die Kino für genau drei Tage besucht. Egal was während dieser Zeit passiert, nach diesen drei Tagen geht Kinos Reise weiter. Die Orte, Menschen und Gesellschaften, die Kino sieht, sind alle vollkommen unterschiedlich und oft verstecken sich hinter augenscheinlich idealen Systemen dunkle Abgründe. Verschiedene Fragen werden hier aufgegriffen und lassen Spielraum für eigene Gedanken. Denn wie der Zuschauer ist auch Kino eher ein Beobachter und greift fast nie ein. Das macht diese Serie auch so einzigartig, der Fokus liegt auf der Reise selbst und all den Zwischenstationen auf dieser. Kino bleibt dabei aber keineswegs blass, sondern auch die Vorgeschichte und die Prinzipien dieses Reisenden wird beleuchtet. Mir hat es Spaß gemacht, Kino und Hermes auf ihrer Reise zu begleiten und über die präsentierten Gesellschaften und Probleme nachzudenken. Manche Städte sind skurril, andere unheimlich, andere regelrecht erschreckend. Jede Station führt Kino geradezu in eine neue Welt. Abwechslung ist hier auf jeden Fall geboten.

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Ayres

Ayres ist ein richtiger Horror- & Mystery-Junkie, liebt gute Point’n’Click-Adventures und ist Fighting Games nie abgeneigt. Besonders spannend findet er Psychologie, deshalb werden in seinem Wohnzimmer regelmäßig "Die Werwölfe von Düsterwald"-Abende veranstaltet. Sein teuerstes Hobby ist das Sammeln von Steelbooks. In seinem Besitz befinden sich mehr als 100 Blu-Ray Steelbooks aus aller Welt.

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chianna
Redakteur
7. Oktober 2017 17:59

Auch wenn die Episoden zunächst nicht zusammenhängend erscheinen, so greifen Geschehnisse doch immer wieder vergangene Geschehnisse auf, bieten sich Vergleiche an und stellt sich immer öfter die Frage, was richtig ist und was falsch. Ich liebe diesen Anime.