Dopesick
Die Opioidkrise, also der stark erhöhte Missbrauch von Opioid-Schmerzmitteln, hält in den USA bis heute an. Seit 1999 sind zahlreiche Amerikanerinnen und Amerikaner an den Folgen einer Überdosis gestorben. Als Hauptauslöser der Krise gilt das 1995 auf den Markt gekommene Schmerzmedikament Oxycontin des Pharmakonzern Purdue Pharma, da es sehr aggressiv als ein Opioid, das weniger als ein Prozent der Verbraucher süchtig machen soll, beworben wurde. Allerdings ist das Suchtpotenzial von Oxycontin genau so hoch wie bei allen anderen Opioiden. Die Miniserie Dopesick erzählt auf der Basis von Beth Macys Sachbuch Dopesick: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie uns süchtig machen von der durch Oxycontin ausgelösten Krise. Die acht Episoden des Dramas liefen in den USA zwischen Oktober und November 2021 auf Hulu, hierzulande feierte sie am 12. November desselben Jahres ihre Premiere im Star-Bereich von Disney+. Seit dem 22. Dezember 2021 ist die Miniserie dort vollständig abrufbar.
Das Pharmaunternehmen Purdue Pharma bringt ein neues Schmerzmittel auf Opioid-Basis auf den Markt: Oxycontin. Es bewirbt das Medikament aggressiv als Gamechanger in der Schmerztherapie und behauptet, es mache weniger als ein Prozent der Konsumenten süchtig. Als neues Wunderheilmittel verkauft, das auch bei milden Schmerzen verschrieben werden soll, greift auch der Landarzt Dr. Samuel Finnix (Michael Keaton, Spider-Man: Homecoming) darauf zurück. Er lebt in einer Gemeinde in Virginia, in der die meisten Menschen in der Mine arbeiten und dadurch oft Schmerzen haben. Doch nach und nach zeigt sich, dass Oxycontin sehr gefährlich ist. Viele der Patienten entwickeln eine ausgeprägte Sucht und die Gewaltdelikte steigen rasant an. Purdue Pharma bestreitet jeden Zusammenhang, doch ein Team aus Anwälten möchte den Pharmakonzern vor Gericht zur Verantwortung ziehen …
Mischung aus rechtlichem und menschlichem Drama
Originaltitel | Dopesick |
Jahr | 2021 |
Land | USA |
Episoden | 8 |
Genre | Drama |
Cast | Samuel Finnix: Michael Keaton Rick Mountcastle: Peter Sarsgaard Richard Sackler: Michael Stuhlbarg Billy Cutler: Will Poulter Randy Ramseyer: John Hoogenakker Betsy Mallum: Kaitlyn Dever Bridget Meyer: Rosario Dawson |
Veröffentlichung: 12. November 2021 auf Disney+ |
Was rechtlich auf Purdue Pharma zukommt, ist natürlich kein Geheimnis und wäre auch keinesfalls genug Stoff, um eine Serie mit acht Folgen zu je etwa 60 Minuten Laufzeit zu füllen. Deswegen geht es neben der rechtlichen Seite vor allem um die verschiedenen Menschen, die von Oxycontin beeinflusst werden. Seien es ahnungslose Teenager, Schmerzpatienten oder leichtgläubige Ärztinnen und Ärzte, die sich von Vertreten des Pharma-Riesen einlullen lassen. So ist die junge Betsy (Kaitlyn Dever, Booksmart) zunächst ein ambitioniertes Mädchen, das hart in der Mine arbeitet. Sie ist stolz darauf, auch als Mädchen die Tradition der Minenarbeiter in der Familie fortführen zu können, leidet jedoch darunter, dass ihre Eltern sehr konservativ und christlich sind. Denn Betsy ist lesbisch und muss ihre Beziehung geheim halten, da ihre Familie Homosexualität für eine Sünde hält. Als sie sich in der Mine am Rücken verletzt, bekommt sie Oxycontin verschrieben – der Anfang einer furchtbaren Sucht-Odyssee, die sie in den Abgrund stürzt. Verschrieben bekam sie das Medikament von Dr. Samuel Finnix, der seit Jahrzehnten als Landarzt tätig ist und die Lügen von Purdue Pharma zunächst glaubt. Erst nach und nach wird ihm klar, was er da seinen Patienten verschreibt und das erschüttert ihn. Denn als Landarzt war er gerade bei seinen jugendlichen Patienten oft bei der Geburt anwesend und sah sie aufwachsen. Doch durch das harmlos scheinende Oxycontin werden sie oftmals süchtig und steigen nach und nach auf harte Drogen um. Das wird auch anhand kleiner Nebengeschichten dargestellt, denn nicht nur dass junge Schmerzpatienten durch Oxycontin süchtig werden – das Medikament wird auch eine beliebte Partydroge bei Jugendlichen mit allen denkbaren Folgen. Die kleinen Momente, die zeigen wie etwa ein Teenager einfach von seinen Freunden liegengelassen wird, als er wegen einer Überdosis bewusstlos wird, sind schockierend. Oder wenn ein kleiner Junge wegen der Überdosis seiner Mutter plötzlich Waise wird.
Dreh- und Angelpunkt: Samuel Finnix
Samuel Finnix ist der Charakter, der mit Abstand am meisten Profil aufweist und der sich besonders authentisch anfühlt. Er wirkt fast wie ein Bindeglied in der Geschichte, denn die Serie fängt mit einer Szene von ihm an und hört auch so auf. Dadurch, dass er ein sympathischer Arzt mit großem Herz für die Sorgen seiner Patienten ist, gleichzeitig aber eklatante Fehler macht, an deren Schuld er fast zerbricht, wirkt er so lebensnah. Ein Mann, der denkt, er würde seinen Patienten mit Oxycontin etwas Gutes tun und zwar skeptisch wird, als der ihm zugewiesene Vertreter Billy Cutler (Will Poulter, Wir sind die Millers) ihm eine immer höhere Dosis des Medikamentes andreht, aber doch nicht die Alarmglocke schrillen hört. Billy Cutler ist ohnehin dann noch eine weitere interessante Perspektive, denn als Vertreter von Purdue Pharma spielt er quasi des Teufels Anwalt, schließlich ist er es, der den Ärzten für eine ordentliche Provision Oxycontin schmackhaft macht. Doch ganz so einfach ist das nicht, denn einerseits werden auch den Vertretern falsche Studienergebnisse präsentiert und zweitens zeigt er durchaus sehr starke Gewissensbisse. Das macht ihn nicht unbedingt sympathisch, aber zu einem schlüssigen Charakter, der zeigt, dass selbst hier nicht alles Schwarz und Weiss ist, sondern Grautöne existieren. Trotzdem bleibt auch er für eine als Hauptrolle aufgeführte Figur recht blass. Dafür sind die beiden Staatsanwälte Rick Mountcastle (Peter Saarsgard, Green Lantern) und Randy Ramseyer (John Hoogenakker, Tom Clancy’s Jack Ryan) sehr sympathisch. Schade ist hierbei jedoch, dass das Privatleben beider kaum gezeigt wird. Einerseits ist das verständlich, schließlich gehören sie zum rechtlichen Teil der Geschichte, andererseits aber auch verpasstes Potenzial. Beide haben eine Frau und Kinder, wie beeinflusst das alles also die Familie? Wie sind die beiden außerhalb ihres Berufs? Das bleibt alles ein wenig im Dunklen, könnte aber auch daran liegen, dass beide keine fiktiven Figuren sind, sondern echte Akteure im Kampf gegen Purdue Pharma darstellen.
Ein kontinuierliches Springen in der Zeit: gute Idee, mäßig umgesetzt
Die Handlung von Dopesick spielt über einen langen Zeitraum, wobei der Großteil zwischen Mitte/Ende der 90er-Jahre und den frühen 2000ern angesiedelt ist. Dennoch gibt es auch mal Szenen, die in den 80ern spielen und in der finalen Folge wird es dann sogar hochaktuell. Grundsätzlich ist die Idee, die Geschichte über mehrere Jahre ablaufen zu lassen, natürlich sehr gut und auch nötig: Schließlich zieht sich der angestrebte Prozess gegen Purdue Pharma über viele Jahre und auch die rasante Ausbreitung von Oxycontin passiert nicht von heute auf morgen. Doch obwohl das aktuelle Jahr immer eingeblendet wird, fällt es teilweise schwer, der Handlung folgen zu können und man muss sich immer wieder fragen, welches Jahr denn gerade gezeigt wird und was das für die Charaktere bedeutet. Das liegt auch daran, dass die Serie es nicht schafft, eine Atmosphäre aufzubauen, bei der man sich denkt: Okay, das sind jetzt die 90er/00er. Die Kulissen wirken alle ziemlich gleich und austauschbar, was schade ist. Natürlich liegt der Fokus nicht darauf, ein authentisches Feeling der 90er aufzubauen, aber es hätte ungemein geholfen, zumindest die Jahre mit größerem Abstand besser voneinander abzugrenzen. Zudem nimmt das Umherspringen zwischen den Jahren auch aus einigen Handlungen die Spannung: Wenn gezeigt wird, wie sich die gegen Oxycontin engagierte Bridget Meyer (Rosario Dawson, Men in Black 2) mit ihrem späteren Mann trifft und die Ehe daraufhin irgendwann stark kriselt, dann wissen Zuschauer:innen schon: Das wird sowieso nichts. Denn die Scheidung der beiden wird bereits in eine der ersten Episoden angesprochen. Zumindest bei Charakteren wie Betsy wird darauf verzichtet, ihre Geschichte zu unchronologisch zu zeigen, aber auch ihr Schicksal wirkt ziemlich vorhersehbar. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, immerhin zeigt Dopesick in seinen fiktiven Charakteren auch kollektiv, was einigen Menschen tatsächlich widerfahren ist. Doch aus dramaturgischer Sicht ist es etwas problematisch, wenn man sich irgendwann nur noch denkt: Aha, dachte ich mir schon.
Schockierend und aufwühlend
Die Stärke der Serie liegt darin, dass Purdue Pharmas Machenschaften und auch einzelne Akteure, die von der darauffolgenden Oxycontin-Krise persönlich oder beruflich betroffen sind, gezeigt werden. Die Sackler wirken in ihrer Geldgier, der Manipulation von Studien und skrupellosen Anweisungen im Sinne von “Erhöhen wir die Dosis! Denn das generiert mehr Umsatz!”, die vollkommen ohne medizinische Anhaltspunkte herausposaunt werden, natürlich unheimlich unsympathisch. Um nicht zu sagen: Widerlich. Bösartig. Durchtrieben. Das trifft insbesondere auf denjenigen zu, der das Oxycontin-Projekt verantwortet: Richard Sackler, geradezu diabolisch und im Stile eines James Bond-Bösewichts dargestellt von Michael Stuhlbarg (Arrival). Als Zuschauer:in baut man ohnehin zwangsläufig eine gigantische Antipathie bis hin zu Wut und Hass auf, wenn die Sacklers auftreten und sich immer wieder erfolgreich aus der Verantwortung ziehen, während sie für den Umsatz einfach alles tun. Egal, ob damit Menschenleben und die öffentliche Gesundheit aufs Spiel gesetzt werden. Dementsprechend ist die Serie unfassbar intensiv, insbesondere dann, wenn in der finalen Episode bei einem Gerichtsprozess gegen Purdue Pharma nicht nur die gespielten Inhalte der Serie gezeigt werden, sondern echte Aufnahmen von den Menschen, die gegen das Unrecht, das ihnen widerfahren ist, protestieren. Diese Mischung sorgt für Gänsehaut und macht schmerzlich bewusst, dass man sich hier keine fiktive Big Pharma-Geschichte angesehen hat, sondern eine Serie, deren Inhalt größtenteils so passiert ist. So basieren selbst die fiktionalen Charaktere oft aus einer Mischung verschiedener Erfahrungsberichte Betroffener, die eben in der Buchvorlage der Journalistin Beth Macy gesammelt wurden. Trotzdem vermittelt die Serie jedoch nach der letzten Episode eine optimistische Botschaft von Hoffnung und Rehabilitation. Fast ein wenig, als würde sie sich an diejenigen richten, die immer noch mit einer Opioid-Sucht kämpfen müssen.
Fazit
Dopesick ist eine besondere Serie. Besonders deswegen, weil sie keine fiktive Geschichte erzählt, sondern einen echten Skandal aufarbeitet und Betroffenen eine Stimme gibt. Schließlich beschäftigt die Opioid-Krise die USA bis heute. Geht es um die Serie selbst, so ist diese auch deshalb so intensiv und geht unter die Haut. Nur wer genauer hinschaut, wird dann auch gewisse Längen erkennen und sehen, das die einzelnen Charaktere selbst (mit Ausnahme des Landarztes Samuel Finnix) doch stellenweise sehr blass bleiben. Zudem ist die Erzählweise des Umherspringens durch so viele verschiedene Jahre zwar notwendig und grundsätzlich gut umgesetzt, verwirrt aber selbst nach mehreren Folgen noch ausgesprochen häufig. Das lenkt dann auch unnötigerweise ab, vor allem da sich einige Szenen und Handlungsstränge doch etwas ziehen und langweilen. Es stellt sich aber auch einfach die Frage, mit welcher Erwartungshaltung man selbst an die Serie geht. Der Anspruch der Serie besteht schließlich nicht darin, ein nervenaufreibendes Drama, womöglich sogar mit Thriller-Elementen, zu erzählen. Insofern ist Dopesick unbedingt einen Blick wert und wenn man sich für die Umstände der Opioidkrise interessiert, kommt man um sie eigentlich gar nicht herum.
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