Das Damengambit
Wenn man liest, dass Netflix eine Miniserie über Suchtprobleme, Obsessionen, Traumata und Schach herausgebracht hat, dann denkt man nicht unbedingt: „Woah, aufregend!“ Man denkt: „Schach?“ Man denkt: „Ist das spannend?“ Man denkt: „Kann ja nur irgend so ein pseudokünstlerischer Schmu sein.“ Falsch. Alles falsch. Denn Das Damengambit, Scott Franks Adaption des gleichnamigen Romans von Walter Tevis, ist genau das: aufregend. Quasi das Rocky für die smarten Leute. Mit einer wunderbaren Anya Taylor-Joy (Emma, The New Mutants) als Zugpferd, erstklassiger Schauspielkunst und toller Bildsprache, ist Das Damengambit nicht nur Drama und Charakterstudie, sondern auch ein fesselndes Sporterlebnis.
Amerika der 1950er: Die achtjährige Waise Beth Harmon (Isla Johnston, später Anya Taylor-Joy) ist ruhig, mürrisch und auf den ersten Blick unauffällig – bis sie heimlich im Keller des Waisenhauses ihre erste Schachpartie gegen den Hausmeister Mr. Shaibel (Bill Camp, The Outsider) spielt. Der erkennt Beths Talent und unterrichtet sie. Beths Sinne werden schärfer, ihr Denken klarer und allmählich erlangt sie das Gefühl zurück, ihr Leben unter Kontrolle zu haben. Als sie in eine Adoptivfamilie kommt und das erste Mal eine Schule besucht, bemerkt sie ihre Andersartigkeit. Doch das Schach gibt Beth Halt. Mit 16 Jahren kämpft sie schließlich um die US-Open-Meisterschaft. Doch je weiter sie voranschreitet, desto höher werden die Einsätze. Isolation, Beruhigungsmittel und Alkoholsucht sind die Riesen, gegen die sie auf ihrem Weg in die Reihe der internationalen Großmeister zu kämpfen hat.
Unvereinbare Welten
Originaltitel | The Queen’s Gambit |
Jahr | 2020 |
Land | USA |
Episoden | 7 |
Genre | Drama |
Cast | Beth Harmon: Anya Taylor-Joy Mr. Shaibel: Bill Camp Marielle Heller: Alma Wheatley Harry Melling: Harry Beltik Thomas Brodie-Sangster: Benny Watts Marcin Dorociński: Vasily Borgov |
Veröffentlichung: 23. Oktober 2020 |
Sport und Kunst haben eines gemeinsam: Sie können das Leben eines Menschen erfüllen, aber auch zerstören. Geschichten wie Das Damengambit handeln von den Reibungen, die zwischen dem normalen Leben und besagtem Sport/besagter Kunst entstehen können, und davon, dass beide Welten gerne mal als unvereinbar gelten. Viele dieser Geschichten enden tragisch mit dem Tod des Protagonisten. Andere enden auf dem Höhepunkt eines Quasi-Drogentrips (Whiplash). Nur selten gelingt eine Synthese beider Welten und damit ein Happy End. Zu welchen Das Damengambit gehört, muss man freilich selbst herausfinden.
Pubertät eines Schachgenies
Das Damengambit ist ein Coming-of-Age-Film. Das Schach und Beths wachsendes Können nehmen freilich eine prominente Stellung ein, doch handelt es sich bei Beth immer noch um ein heranwachsendes Mädchen. Im Waisenhaus fällt ihre isolierende Fixiertheit auf das Schach nicht weiter auf, doch in der Schule kommt es zu den ersten Reibereien mit anderen Mädchen. Diese interessieren sich vor allem für Jungs und Sex, halten sich also für erwachsen und können mit Beths augenscheinlicher Kindlichkeit nichts anfangen. Dabei sind sie schlicht unfähig, Beths wahre Reife zu erfassen. Okay, Beth hat’s noch nicht so raus mit anzüglichen Witzen, doch zeigt sich ihre Art von Erwachsensein woanders: Sie schätzt das Alleinsein, kann dank ihrer Introvertiertheit ihre Gefühle klug in Worte fassen und hat nach der Schule nicht das Ziel, sofort weggeheiratet zu werden. Vor allem aber entwickelt sie eine wachsende Abhängigkeit von Beruhigungspillen und Alkohol.
Der König sticht die Jungs aus
Ein wiederkehrendes Bild in Das Damengambit ist das Schachbrett an der Decke – eine Imagination von Beth, um Schachzüge zu visualisieren. Sie sieht es (tablettenbedingt) vor allem nachts, wenn sie im Bett liegt. Durch die riesenhaften Schachfiguren, die ihre Bahnen ziehen, erfährt sie Trost. Späterhin bekommt das Schachspiel eine zusätzliche Konnotation, wenn der Schatten des Königs beginnt, sich von Beths Schoß ausgehend über ihren gesamten Körper zu legen – sie quasi ausfüllt. Es ist bezeichnend, dass der König das gerade in Beths Pubertät tut. Man könnte sagen: Beth findet ihre Erfüllung nicht in Jungs, sondern im König – also im Schach. Und Anya Taylor-Joy ist wie gemacht für diese Rolle. In wunderschön unterkühlter Eleganz wandelt sie komplett chaotisch durch die Welt, bricht Männerherzen (während sie gleichzeitig ein totaler Backfisch bleibt) und vernichtet im internationalen Stil ihre Gegner.
Es menschelt überall
An sozialem Drama erwartet man möglicherweise, dass es zwischen Beth und ihrer alkoholaffinen Adoptivmutter Alma (Marielle Heller, Chaos City) zum großen Knall kommt. Stattdessen erkennt die Mutter (aus nicht uneigennützigen Motiven) die Klasse ihrer Adoptivtochter und wird ihre Managerin. Der Fokus liegt hier auf einem Frauenduo, das autonom durch die Weltgeschichte der 60er tigert. Die zentrale Männerrolle, die einzige mit emotionaler Relevanz, wird vom Hausmeister Mr. Shaibel ausgefüllt. Ein wirkliches Love Interest gibt es nicht, dafür aber genug Gegner, die Beth zuerst belächeln, ihr unterliegen, dann verfallen und späterhin ihre Unterstützer werden. Zu erwähnen sei da unter anderem Harry Melling, der seinerzeit den verhassten Dudley aus Harry Potter spielte und den man vor lauter Gewichtsverlust nicht mehr wiedererkennt. Männer wie Frauen spielen wichtige Rollen in Beths Entwicklung und es gibt keinen wahrhaft Bösen. Selbst den Weltmeister Borgov (Marcin Dorociński, Anthropoid), diesen Russen von gruseliger Brillanz, kann man am Ende nur gern haben. Das Damengambit präsentiert hier einen unaufgeregten Feminismus ganz ohne Keule. Generell wird das Publikum von den Kernthemen nicht erschlagen. Tablettensucht, Alkoholsucht, die Angst vor dem Alleinsein: Nichts wird übermäßig stark repräsentiert. Alles fließt homogen ineinander, hat an manchen Stellen seinen Moment und an anderen halt nicht.
Ist das spannend?
Was den Cast betrifft, bleibt die Aufmerksamkeit absolut gerne bei der Stange. Die Figuren sind toll geschrieben und ihre Entwicklung spannend zu verfolgen. Und wie schaut’s mit dem Schachspiel aus? Hier kommt natürlich als allererstes der Soundtrack von Carlos Rafael Rivera (Godless) ins Spiel. Rivera verpasst dem Damengambit ein Main Theme, als würde gleich die Black Pearl um die Ecke geschippert kommen und unterlegt die Schachpartien mit spannungsvollen Akkordprogressionen, die nicht zu aufdringlich sind, sich aber dennoch stets nach oben schrauben und den Matches ein Momentum der mild aufreibenden Dramatik verleihen. Das, die Kameraperspektive und die wahrhaftige Besorgnis, die man für Beth und die anderen Spieler entwickelt, vermitteln die Obsession der Schachspieler und die zerebrale Spannung, die zukünftige Schachmeister verspüren müssen. Also ja, es ist spannend.
Fazit
Wenn ich mit den Fäusten in die Luft boxe und nach jedem Match aufgelöst vor der Flimmerkiste sitze, dann macht Das Damengambit alles richtig. Die Serie gibt Einblick in einen Sport, der oft als veraltet betrachtet wird, und zeigt, wie aufregend er sein kann. Schon die Romanvorlage war seinerzeit schwer zu klassifizieren und irgendwo zwischen Thriller, Gambling und Bildungsroman anzusiedeln. Das gilt auch für die Netflix-Verfilmung, die übrigens darüber hinaus als mit sieben Episoden abgeschlossene Miniserie sehr „bingeable“ ist. Das Damengambit erzählt von der schachmäßigen Obsession eines Mädchens, das im ehrgeizigen Milieu junger Schachspieler einen Halt sucht. Es ist eine Serie über die Schwierigkeit, erwachsen zu werden, sich selbst zu finden und zugleich eine Liebeserklärung an das Schachspiel (zumindest stelle ich mir als Laie eine Liebeserklärung genau so vor).
© Netflix