All You Need (Staffel 1)
Eigentlich sollte es heute, insbesondere im Zeitalter von Netflix, nichts Besonderes mehr sein, Geschichten über Figuren abseits der Heteronormativität zu erzählen. Dennoch erhält All You Need überraschend viel Aufmerksamkeit. Vielleicht – oder gerade weil – es sich um die erste größere Serienproduktion mit homosexuellen Hauptcharakteren auf einem öffentlich-rechtlichen Sender handelt. Obwohl in der Serie genug erzählerisches Potenzial zu stecken scheint, so dass sie bereits für eine zweite Staffel verlängert wurde, gibt es gleich zu Beginn mächtig viel Rummel. Denn nicht überall stoßen einige Entscheidungen bezüglich des Castings und der Ausstrahlung auf Begeisterung. Wer die Ausstrahlung der ersten Staffel am 16. und 17. Mai auf ONE verpasst hat, kann die Serie in der ARD Mediathek nachholen.
Berlin: Der Langzeitstudent Vince (Benito Bause, Die Prüfung) begegnet in einem Club dem verschlossenen Robbie (Frédéric Brossier, The Red Baron Documents). Aus einer schnellen Nummer auf der Toilette wird schnell mehr, doch Vince ahnt noch nicht, dass Robbie mehr vor ihm geheim hält, als ihm lieb ist. Der mysteriöse Fitnesstrainer verrichtet heimlich Sozialstunden, von denen er auch seinem neuen Boyfriend nichts erzählt. Währenddessen zieht Vinces Mitbewohner Levo (Arash Marandi, A Girl Walks Home Alone at Night) aus der gemeinsamen WG aus, um mit seinem Partner zusammenzuziehen. Tom (Mads Hjulmand, Sløborn) outete sich erst kurz davor als homosexuell, als er seine Ex-Frau verließ, mit der er den gemeinsamen Sohn Nick hat. Levo zieht nun in sein Haus ein, in dem Tom vorher mit seiner Familie gelebt hat. Ärger scheint vorprogrammiert …
Sexuelle Identität ist weder Nebensächlichkeit noch Dauerthema
Originaltitel | All You Need |
Jahr | 2021 |
Land | Deutschland |
Episoden | 5 (in Staffel 1) |
Genre | Dramedy |
Cast | Tom: Mads Hjulmand Robbie: Frédéric Brossier Levo: Arash Marandi Tom: Mads Hjulmand Sarina: Christin Nichols |
Veröffentlichung: 5. Mai 2021 in der ARD Mediathek |
Fasst man einmal Homosexualität im deutschen Fernsehen zusammen, kommt man schnell am Ursprungspunkt im Jahr 1990 an, als Carsten Flöter und Robert Engel in der Lindenstraße knutschten. Das deutsche Fernsehen befand sich da auf der Höhe der Zeit, was die Abbildung der Realität in fiktionalen Inhalten angeht. Obwohl mittlerweile schwule Figuren aus keiner Seifenoper mehr wegzudenken sind, gab es bislang keine größere Produktion, in der homosexuelle Männer tatsächlich auch im Mittelpunkt stehen. In den USA stellt das längst nichts Besonderes mehr dar, immerhin lief Queer as Folk dort bereits im Jahr 2000 an. Insofern erscheint die Ausstrahlung von All You Need wie ein längst überfälliger Schritt. Der Regisseur und Drehbuchautor Benjamin Gutsche, zuletzt für die Serie Arthurs Gesetz verantwortlich, erzählt aus dem Leben von vier schwulen Männern. Wichtig ist dabei zu betonen, dass es sich um keine LGBTQ-Serie handelt und kein Anspruch erhoben wird, die volle Vielfalt abzubilden, denn All You Need fokussiert sich zumindest in Staffel 1 auf ausschließlich schwule Männer, ohne dass deren sexuelle Orientierung zum Dauerthema gemacht wird. Überstehen muss man die erste Episode allerdings schon, die zahlreiche Klischees bedient und checklistenartig alles abarbeitet, was man in einer solchen Serie erwarten (vielleicht sogar befürchten) würde: Gay Sauna, Sex auf der Club-Toilette, Rollenklischees.
Ein Stück Slice of Life
Mit der zweiten Folge beginnt die Serie dann allmählich ihren eigenen Weg zu gehen. Sofern man das so sagen kann, denn die Parallelen zur HBO-Serie Looking sind verblüffend. Auch dort steht eine Gruppe schwuler Männer im Fokus, von denen zwei in einer WG gelebt haben. Ebenfalls gibt es dort mit dem Beruf der Boyfriend-Rolle Konfliktpotenzial und aus dem an sich ruhigen Alltag heraus entstehen kleine, aber kaum aufzuhaltende Dramen. Was beide Serien ebenfalls verbindet, ist die stilistische Bildgestaltung. In beiden Produktionen kommt exzessiver Filter zum Einsatz, der die Handlung in eine Atmosphäre mit intensiven, verträumten Bildern hebt. In All You Need dominieren geheimnisvolle Rosa-Töne. Klingt auch erst einmal kitschig bis klischeehaft, sorgt aber für einen tollen Look mit Wiedererkennungswert. Nur eben vor dem Hintergrund, dass Looking sich bereits ähnlicher Mechanismen bediente, wodurch diese kreative Entscheidung nicht mehr ganz so frisch und originell wirken mag, aber Eindruck hinterlässt. Es sei denn, man ist prinzipiell gegen visuelle Spielereien, die den Anschein erwecken, als sei die Bildsprache gelegentlich stärker als die Handlung. Denn All You Need ist keine Serie, die man für ihren Plot liebt. Es geht um den Alltag der vier Figuren, der mal mehr, mal weniger vor sich hinplätschert.
Warum Empörung ungerechtfertigt ist
Die Freude über die Ausstrahlung der Serie erwies sich als zweigeteilt. Während sich die einen freuen, dass es überhaupt 21 Jahre nach den USA eine schwule Serie ins deutsche Fernsehen schafft, ärgern sich andere darüber, dass die Serie auf einem Spartensender wie ONE unbemerkt bleibt. Ob diese Diskussion im Zeitalter von Streamingdiensten und Mediatheken überhaupt noch geführt werden muss, sei dahingestellt. Der eigentliche Grund ist natürlich die Strahlkraft der Serie, die auch ein Massenpublikum erreichen soll. Noch mehr beschäftigte in den sozialen Medien vor allem aber die Diskussion, weshalb vier heterosexuelle Schauspieler für die Rollen homosexueller Männer gecastet wurden. Sie wurden im Casting aufgrund der Abwesenheit von toxischer Männlichkeit ausgewählt, so Regisseur Gutsche. Bei aller Empörung muss man auch einmal inne halten: Grenzt es nicht an Doppelmoral, jemanden aufgrund seiner Sexualität zu bevorzugen, wenn man gleichzeitig kritisiert, aufgrund dieser Tatsache Benachteiligung zu erfahren? Am Ende geht es um schauspielerische Leistung und nicht darum, Community-Vertreter zu finden. Politisierende Aspekt gibt es aber auch so zur Genüge in der Serie. Vince ist nicht nur schwul, sondern auch schwarz. Das wird nicht großartig thematisiert (ebenso auch nicht, dass Nick nun bei zwei Männern lebt), sondern als gesetzt genommen. Das bedeutet nicht, dass bestimmte Aspekte völlig außen vor sind. Sie werden nur nicht bis ins Detail erklärt, um auch ja jeden Zuschauer abzuholen oder jedes Quäntchen Dramatik aus dem Stoff zu würgen. Begriffe wie PrEP werden erwähnt, nicht aber erklärt. Dass die Serie nicht in das Schema verfällt, es Zuschauern immer recht machen zu müssen, zeichnet sich auf angenehme Weise ab.
Dramedy mit Luft nach oben
Die in Summe zweieinhalb Stunden Spielzeit steuern auf ein offenes Ende hin, bei dem glücklicherweise bereits feststeht, dass es fortgeführt wird. Gerade über die letzten beiden Folgen baut sich ein sauber inszeniertes Drama auf, das man als erfahrener Zuschauer zwar kommen sieht, das aber als selbst erfüllende Prophezeiung noch immer ein stimmiges Bild abgibt. Bis dahin ist insbesondere Vince als Protagonist halbwegs weiterentwickelt, während die anderen Figur hingegen noch etwas starr wirken. Für eine Dramedy wirkt der Humor bisweilen hier und da erzwungen und geht meist auf die Kappe von Sabrina (Christin Nichols), die als alleinerziehende Mutter die Ulknudel vom Dienst gibt. Auf der anderen Seite wird es aber auch, abgesehen von den zwischenmenschlichen Differenzen, nicht zu dramatisch und das Drehbuch tappt nicht in das Fettnäpfchen, Leid, Homophobie und Rassismus zu größeren Themenblöcken zu formen. Die Kernthemen kann man überall einsetzen: Finanzielle Ungleichheit unter Paaren und die Stolpersteine junger wie langlebiger Beziehungen.
Fazit
Für Kenner von HBOs Looking fühlt sich All You Need erst einmal nach beinahe dreister Kopie an. Aber: Looking ist auch nicht die schlechteste Serie, an der man sich orientieren kann, wenn es darum geht, wie sich eine Geschichte intensiv mit dem Alltag ihrer Figuren befasst. Die erste Staffel All You Need ist viel zu kurz, um dem auch nur annähernd das Wasser reichen zu können. Aber die Ansätze sind vorhanden und hat man einmal die klischeehafte Pilotfolge geschafft, macht die Geschichte tatsächlich noch merkbare Fortschritte. Es bleibt zu hoffen, dass die zweite Staffel an diesen Positiv-Trend anknüpfen kann.
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