Mouthwashing
Minimal verstörende Horror-Games sind das Steckenpferd des Publishers Ciritcal Reflex. Nachdem sie Anfang 2024 bereits das gehypte Buckshot Roulette in ihr Repertoire aufnahmen, veröffentlichten sie am 26. September 2024 eine neue Indie-Perle: Mouthwashing des schwedischen Entwicklerstudios Wrong Organ. Ein psychologisches Horrorstück über eine Raumschiffbesatzung, die von ihrem eigenen Captain zum Tode verurteilt wird. Nach einer verheerenden Kollision mit einem Asteroiden, haben sie nur noch wenig Proviant und wenige Tage zum Überleben. Ihre letzte Hoffnung ist ihre geladene Fracht: Millionen Flaschen an Mundwasser.
Mouthwashing erzählt die Geschichte der fünfköpfigen Besatzung der Tulpar, eines Langstreckenraumfrachters für den interstellaren Paketdienst Pony-Express. Der Flug soll 382 Tage dauern, doch am 147. Tag laufen die Dinge nicht wie geplant. Aus unbekannten Gründen steuert Captain Curly das Schiff in einen Asteroiden und verbrennt sich dabei praktisch selbst. Schaum hat große Teile des Schiffes versiegelt und die Besatzung treibt nun auf einem namenlosen Felsen im All. Vorräte und Sauerstoff werden bald aufgebraucht sein. Die Crew muss nun sehen, wo sie bleibt – mit einem verbrannten Captain auf der Krankenstation, der sie alle umbringen wollte, und Millionen von Flaschen an Mundwasser im Frachtraum.
PS2-Ästhetik in da house
Originaltitel | Mouthwashing |
Jahr | 2024 |
Plattform | PC |
Genre | Psycho-Horror, Drama |
Entwickler | Wrong Organ |
Publisher | Critical Reflex |
Spieler | 1 |
Veröffentlichung: 26. September 2024 |
Mouthwashing beginnt mit dem Crash. Wir sind live dabei, wenn wir das Schiff höchstpersönlich in den Asteroiden lenken. Es folgt ein kurzer surrealer Fiebertraum, in dem wir vom Maskottchen des Pony-Express gejagt werden, und spätestens da merken wir: Irgendetwas stimmt nicht. Schnitt. In den folgenden drei Stunden Spielzeit wechseln wir immer wieder zwischen der Perspektive von Captain Curly (vor dem Crash) und seinem Co-Piloten Jimmy (nach dem Crash) und erfahren so, wie es zum Crash kam und welche Konsequenzen daraus folgen. Dabei steuern wir unseren jeweiligen Charakter aus der Ego-Perspektive, interagieren mit Objekten und sprechen mit der Crew, die nach zwei Monaten bereits anfängt, das Mundwasser zu saufen. Grafisch hat sich das Entwicklerteam für einen retrograden PS2-Look entschieden, garniert mit viel Dithering. Das mag den Indie-typischen Limitationen geschuldet sein, sorgt andererseits aber auch für eine klare Handschrift, die unerlässlich ist, wenn ein fiktives Werk im Kopf des Rezipienten hängen bleiben soll. Goldene Regel: Der Art Style steht immer über der Grafik (deswegen hält sich BioShock auch so gut).
Irgendwo beginnt’s zu miefen
Die Figuren in Mouthwashing sind klar gezeichnet. Von Anfang an versteht man ihre Spannungen und kann sich ein erstes oberflächliches Bild machen. Oberflächlich deshalb, weil Mouthwashing in die Kategorie »Psycho-Horror« fällt und das Spiel daher natürlich auch eine Ebene der Irreführung besitzt. Mouthwashing behandelt unter anderem Themen wie Verantwortung, Misshandlung, Selbstmord und Verblendung und dreht sich vor allem darum, dass die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen. Der Techniker hasst seinen Praktikanten – aber ist das wirklich so? Die Schiffssanitäterin ist per se ein Nervenbündel – oder nur in bestimmten Situationen? Der Co-Pilot ist ein beflissener Kerl, der einfach nur alles in Ordnung bringen will – oder spielt er allen etwas vor?
Der ikonische Coverboy: Captain Curly
Und was ist eigentlich mit Captain Curly los? Der Typ hat etwas Ungeheuerliches getan und sieht jetzt auch äußerlich wie ein Ungeheuer aus – and that’s it? Captain Curly ist das auffälligste Versatzstück von Mouthwashing; er ist der entstellte Frontmann der Show und sein starrendes Auge quasi das Logo des Games. Das und seine verstümmelten Zähne lassen ihn wie eine Leiche aussehen. Umso erschreckender, dass er keine ist. Curly ist lebendig und dazu gezwungen, eine Leiche zu spielen, unfähig, an der Geschichte teilzuhaben. Er bedient die Rolle des Schreckgespenstes, das alle heimsucht, aber natürlich steckt auch hier mehr dahinter. Letztlich ist es bitterlich ironisch, dass gerade Curly als untätige, bettlägrige Leiche endet.
In den pixeligen Fußstapfen von Silent Hill 2
Mouthwashing erweckt den Eindruck eines Lovecraft’schen Jump-Scare-Spiels, doch der Schein trügt. Das Game bedient sich einer anderen Art von Horror. Einer, die im Hintergrund lauert und darauf wartet, von den Spieler:innen entdeckt zu werden – spätestens beim zweiten Durchlauf, wenn man beginnt, die chronologisch nicht linearen Teile zusammenzufügen. Freilich: Es gibt Abschnitte, die darauf abzielen, gruselig und erschreckend zu sein. Da wird man dann von namenlosen Kreaturen verfolgt und der Puls geht hoch. Allerdings handelt es sich dabei immer um metaphorische Höllen à la James Sunderland aus Silent Hill 2 mit dichter Atmosphäre, grotesken Bildern und Geräuschen, die einen schaudern lassen. Gibt man Curly seine Schmerzmittel, wird das Bild schwarz und man hört lediglich ein sehr verstörendes Audiorama, dessen ausgelöstes Kopfkino schwerer wiegt als jede Animation es könnte. Warum hören wir in diesem Moment das, was wir hören? Das gilt es in Mouthwashing herauszufinden – wenn wir die Charaktere Stück für Stück ergründen.
Fazit
Ich hatte bei Mouthwashing jenseitigen, völlig verrückten kosmischen Horror erwartet und bekam stattdessen geerdeten, schmerzhaft realistischen Psycho-Horror mit einer gut durchdachten Story und Horrorsegmenten à la Silent Hill 2, deren metaphorische Bedeutung sich erst nach und nach erschließt. In Kombination mit dem eigentümlichen Grafikstil, dem stimmigen Soundtrack und der unheiligen Ikone des entstellten Captain Curly, macht das Mouthwashing zu einer erinnerungswürdigen Indie-Perle. Die Moral von Mouthwashing: Mundwasser kann 99,9 Prozent der Bakterien töten, aber manchmal reichen die überlebenden 0,1 Prozent aus, um die gesamte Gusche verrotten zu lassen.
© Critical Reflex