Grime
Zu sagen, jemand habe ‘ein Loch im Kopf’, ist eher selten als akkurate Feststellung gemeint, höchstens als mitleidige, wenn derjenige in einer Stanzfabrik mit extrem laschen Arbeitsschutz werkelt. Zu sagen, jemand habe ‘ein schwarzes Loch als Kopf’, würde wohl erst recht nicht als hilfreiche Beobachtung verstanden, sondern man holt verwirrt und verärgert zur Kopfnuss aus. Nicht so der Protagonist von GRIME, einem soulig-grotesk-bissigen Metroidvania, das 2021 von Clover Bites zurechtgemeißelt und von Akupara Games mit bedächtigem Nicken abgesegnet wurde. Er würde wohl vielmehr zustimmend nicken und dann den Sprecher aufsaugen. Nicht aus gekränktem Stolz heraus, mehr aus Prinzip. Denn das behände und befußte Loch ohne Boden muss sich in einer bizarren und gefährlichen Welt zurechtfinden, die vor Gefahren und gemeinem Feinstaub nur so wimmelt. Nicht zuletzt dank der Mühen der Steinmetze von Clover Bites, die das Game regelmäßig mit Updates und größeren DLCs versorgten. Der Aktuelle erschien im Juni 2023 und gibt Alt- wie Neuinteressierten einen Grund, sich von der beeindruckenden Saugkraft des namenlosen Nimmersatts zu überzeugen.
Nach einem Intro, in dem zwei riesige zersprengte Steingestalten vermutlich den kosmischen Bienchen-Blümchen-Tango samt zünftigem Urknall tanzen oder Schwerelosigkeit bedingt gegeneinander prallen, ploppt in einer seltsamen Symmetrie besessenen Welt, der steinerne Fleckwegheld in die Existenz. Nach kurzem Schütteln der klobigen Granitglieder macht sich Astro Clean 2000 auf den Weg, seine Umgebung zu erkunden. Eine merkwürdige Welt, die ihm nichtsdestotrotz die Hand reicht, und den Kopf, und die Zähne, und die Haare, und was sich sonst alles in der bröckelig Umgebung finden lässt, um dem Neuankömmling die Wanderlust aus dem Kopf zu schlagen. Bloß gut, wenn man überhaupt keinen hat.
Soulig surreal
Originaltitel | GRIME |
Jahr | 2021 |
Plattform | PC, PlayStation 4, PlayStation 5, Xbox One, Xbox X/S |
Genre | Action-Adventure |
Entwickler | Clover Bite |
Publisher | Akupara Games |
Spieler | 1 |
USK | |
Im Handel erhältlich |
Wer sich nach der Inhaltsangabe etwas mürrisch am Kinn tippt und sich fragt, was in der Welt von GRIME nun los sei, muss sich keine Sorgen machen. Das weiß der Schreiber dieser Zeilen auch nicht so genau, denn GRIME bedient sich dem, vor allem durch die souligen Titel von FromSoftware nach vorne gebrachten, Entenfütterungsprinzip des Storytelling. Man watschelt als Spieler unwissend umher und ist über jeden Krumen, der einem zugeworfen wird, heilfroh, wenn auch leicht verwirrt, weil man das große Ganze nicht versteht. Ähnlich wie in Titeln wie Blasphemous, Hollow Knight oder Ender Lilies: Quietus of the Knights muss man sich nicht nur Fortschritt, sondern auch Verständnis erarbeiten. Zumindest, wenn man will. Letztlich kann man auch mit staunend offenem Mund durch die grotesken Gebiete wandeln, die Clover Bites geklöppelt hat, sich wundern, was all das zu bedeuten hat, wenn ein NPC wirre Fetzen vor sich hin murmelt, bis man von einem Steinmensch mit Riesennadel aufgespießt wird, was einen daran erinnert, dass der Hans-Guck-in-die-Luft-Ansatz hier keineswegs geduldet wird. Aber auch wenn es an etwas greifbareren Story-Elementen mangelt, strotzt und protzt GRIME vor Atmosphäre. Steinerne Gesichter, Hände, unsäglich ekelerregende Zahnmünder, extrem haarige Gärten und mittendrin ein Haufen vage humanoid wirkende Haderlumpen und solche, die das Anatomie-Handbuch entweder falschrum gehalten oder sofort weggeschmissen haben. Allesamt natürlich derart herzlich eingestellt, dass sie einen regelrecht zermalmen mit ihrer ganz eigenen Gastfreundlichkeit. All das generiert ein wirklich eigenständiges Gefühl, das sich maßgeblich von anderen Titeln des Genres unterscheidet und sich in die Erinnerung gräbt.
Soulig saugstark
Die Bezeichnung ‘Soulslike’ ist trotzdem angebracht, um sich eine Vorstellung davon zu machen, wofür man sich wappnen muss. Ausdauer basierte Kämpfe, die einen für jeden Misstritt- und Klick ohrfeigend bestrafen, bonfire’ige Riesensteinklötze als Checkpoints, die nach jeder Rast auch die Feinde ausgeruht und sprungbereit zurückbringen sowie begrenzte Heilung und das gute alte Seelen sammeln, hier schlicht Masse genannt, die von Schluck-und-weg dank offensichtlicher Taschenlosigkeit aufgeschlürft wird. Soweit so bekannt, aber GRIME hat eine ganze Reihe eigener Tricks auf Lager. Zuallererst: Die Nasen-, Ohren- und generelle Gesichtslosigkeit ist nicht nur Zierde für Gesprächspartner mit Augenkontaktscheue, sondern eine überaus mächtige Waffe. Denn (nahezu) jeder Gegner, der einem wagemutig entgegentritt, kann mit passendem Timing eingesaugt werden. Funktional ist es zunächst ein Parry mit nachhaltigem Bonus. Denn wer genug Gegner eines Typs verschlingt, hat die Möglichkeit eine neue passive Fertigkeit freizuschalten. Sei es simple Evergreens wie mehr Leben oder Ausdauer, aber auch mehr speziellere Fähigkeiten wie eine Schadensreduzierung nach verpatztem Parieren oder ein explosives Geschenk für den Angreifer, wenn man mehr als genug Breath aufgesammelt. Wie was? Breath!? Dabei handelt es sich um einen weiteren Unterschied zur Tradition und genauer um eine dritte Leiste, die sich ebenfalls durch erfolgreiches Absaugen des Gegners füllt, quasi eine unkonventionelle Form der Mund-zu-Loch-Beatmung, die unter anderem dazu genutzt wird, sich zu heilen. GRIME unterstützt keine Estus-Flask-Abhängigkeit. Es ist also nicht nur überaus vorteilhaft, sich mit dem Parry in jedem Kampf auseinanderzusetzen, sondern wird einem auf diese Weise auch notgedrungen eingetrichtert. Die passiven Fähigkeiten sind dabei überwiegend wirklich nützlich und stellen einen immer wieder vor die Qual der Wahl, welche man letztendens mit anderwaltig erworbenen Jagdpunkten aktivieren will.
Upgrade-Schwäche
Nicht ganz so quälend interessant ist das Aufleveln des protagonistischen Powersaugers. Wie bekannt, liefert jeder zertrümmerte Gegner bereits erwähnte Masse, die sich in verschiedene Attribute packen lässt, um das Handling unterschiedlichster und unnatürlichster Knüppel, Schwerter, Knochensensen, Nadelspeeren uvm. zu verbessern oder Lebenspunkte oder Ausdauer zu erhöhen. Diese Erhöhungen fühlen sich aber selten besonders wirkmächtig an, da sich auch die geschwungenen Feinstaubhersteller eher mäßig durch Aufwertungen im Schaden verändern. ‘Rüstungen’ oder vielmehr gleich ganz andere Körper, um sie unter das pulsierende Loch zu kleben, gibt es ebenfalls, die ein paar passive Boni mit sich bringen, die in ihrem Nutzen ebenfalls schwanken. Dafür ist die Auswahl, insbesondere bei den rabiaten Fleck-durch-größere-Flecke-Entferner äußerst vielseitig und alles, von simplen Schwert- und Speeren, oder was auch immer in der Welt dafür herhält, bis zu deutlich experiementelleren Herumschlägern ist alles dabei.
Schön-schaurig-schäbige Welt
Wo GRIME ebenfalls punkten kann, ist die Erkundung der Welt, die sich vor dem eigenen gierigen Rüssel erstreckt. Immer wieder zeigen sich speziell in den Hintergründen ein paar bildgewaltige Szenarien, die einen manchmal regelrecht erschauern lassen, gepaart mit dieser ganz eigenen Atmosphäre. Nun ist nicht jeder Tunnel, nicht jeder Gang eine künstlerische Offenbarung, aber dafür gibt es immer wieder abseits der Wege etwas zu entdecken, etwas zu holen oder etwas aufzusaugen. Denn durch das beschriebene Parry&Slurp ‘freut’ man sich ebenfalls über jeden neuen Gegner, der einem in den Weg geworfen wird und durch den man mit ein wenig Geduld eine neue Passive sein eigen nennen kann. Metroidvania getreu versorgen größere Bosse und Herausforderungen das stille Nichtgesicht mit einer Reihe neuer Bewegungsfähigkeiten, sei es der gute alte Doppelsprung oder die Fähigkeit, an Sachen zu ziehen und zerren, was auch im Kampf eingesetzt werden kann, um Gegnern in die Parade zu fahren. Oder zumindest hinterhältig an ihr zu zupfen. Durch die neuen Inhalte, die einerseits neue Gebiete einfügen und andererseits ein spannendes New Game Plus ermöglichen, hat man einiges zu tun, bevor man zufrieden den Staubbeutel ausklammert und sein getanes Werk begutachtet. Zudem ist ein dritter inhaltlicher DLC am Horizont. Wem also das Grundspiel zu wenig Biss hatte, was dank hauseigenem Zahn-Biom leidlich unwahrscheinlich ist, bekommt nochmal einen deutliche Portion Körpergliedergrusel obendrauf.
Für (fast) alle Sinne ein Fest
Für die Augen gibt es also immer etwas zu sehen und sei es auch etwas, was man gar nicht sehen wollte. Aber auch die Ohren haben etwas zu tun, denn der Soundtrack von GRIME ist schön epos-episch und wellt gerade in den Bosskämpfen ordentlich auf, um dem Aufeinandertreffen die nötige Gravitas zu verleihen. Besagte Kämpfe stellen definitiv einen weiteren Höhepunkt dar, ohne dabei komplett zu überfordern. Zwar wird man so manches Mal fluchend zusehen, wie man in einem Scherbenhaufen verpufft, aber es schmerzt nie zu sehr, da sich, ebenfalls soulsuntypisch, die Grausamkeit des Seelenwiedererlangens gespart wird. Die gesammelte Masse bleibt in der eigenen Tasche, dafür hat man einen Vorteil beim Aufsaugen, wenn man es möglichst lange ohne Spontanimplosion durch die Gegnerreihen geschafft hat. Bei allem Lob muss aber noch ein Dämpfer sein, denn so wuchtig alles aussieht und sein könnte, fühlt es sich nicht immer so an. Den Kämpfen fehlt ein wenig der ‘Schmackes’, wie man in deutscher Fachliteratur sagen würde. Es cruncht und kracht nicht genug, aber ausreichend.
Fazit
GRIME ist ein großartiges Metroidvania mit gänzlich eigenem Stil, der für eine ebenfalls gänzlich eigene Atmosphäre sorgt. Die Kernmechanik rundum das Aufsaugen von Gegnern ist ungemein befriedigend, da jeder kleine Sieg sich belohnend anfühlt und man neuen Gegnern regelrecht entgegenfiebert. Haben sie mich trotzdem oft genug zu Feinstaub zermahlen? Absolut. Aber die Herausforderung war angenehm und auch die knackigen Plattform-Einlagen haben mir das Gefühl gegeben, ein ungemein gewandtes … Schwarzeslochdingens zu sein. An der Geschichtsfront bin ich ehrlich: Da herrscht in meinem eigenen Oberstübchen eher die meinem Protagonisten eigene Leere. Für mich persönlich kein Kopf- und/oder Beinbruch, denn sowohl Erkundung als auch die erwähnte Atmosphäre und selbstverständlich das Gameplay – trotz mangelnder Wuchtigkeit – machen es mehr als wett. Ich könnte mir aber vorstellen, dass jene, die dem brabbelig mystisch vagen Erzählstil, den viele soulsbenachbarte Titel an den Tag legen, auch einmal genug davon haben. GRIME ist in der Hinsicht aber insofern ein dankbarer Vertreter, da der gänzlich eigene Stil es mehr lohnenswert erscheinen lässt, sich tiefer mit der Mythologie der präsentierten Welt auseinanderzusetzen. Schlussendlich bin ich davon überzeugt, dass jeder, dem der Sinn nach einem ordentlichen Metroidvania steht, und der vielleicht noch immer daran glaubt, dass irgendwann Hollow Knight: Silksong erscheint, hier einen Titel hat, in dem man sich wunderbar verbeißen kann. Es sei nur der Vorsicht halber darauf hingewiesen, dass es durchaus in der Lage ist, zurückzubeißen.
© Akupara Games