Thelma
Um zu beschreiben, über welches Potenzial Thelma von Regisseur Joachim Trier (Louder Than Bombs) verfügt, bedarf es vieler Worte. Was zunächst nach einer bedeutungsschwangeren Coming-of-Age-Geschichte aussieht, entpuppt sich als inszenatorischer Knaller, der ebenso ein Spin-off zu X-Men sein könnte wie die nordische Schwester von Black Swan. Das norwegische Drama beginnt mit einer verstörenden Familienszene und verlässt kurz darauf den Pfad des Realistischen, um zu einem emotionalen Supernatural-Spektakel zu werden.
Thelma (Elli Harboe, Doktor Proktors Zeitbadewanne) hat jüngst ihr streng christliches Elternhaus und die ländliche Heimtat hinter sich gelassen, um in Oslo ein neues Leben als Studentin zu beginnen. Dort muss sie sich zunächst anfänglichen Eingewöhnungsproblemen stellen, wie etwa sozialen Anschluss zu finden. Währenddessen fällt es ihren Eltern Unni (Ellen Dorrit Petersen, Shelley) und Trond (Henrik Rafaelsen, Welcome to Norway) umso schwerer, ihre Tochter loszulassen. Zwar gibt sich Thelma der regelmäßigen telefonischen Kontrolle ihrer Eltern hin, doch ist sie davon nicht sonderlich angetan. Als Thelma eines Tages in der Bibliothek sitzt, kommt es zu einem seltsamen Zwischenfall: Ein schwarzer Vogel knallt gegen die Fensterscheibe und kurz darauf bricht die Studentin mit einem epileptischen Anfall zusammen. Doch nicht nur dieses Vorkommnis, sondern auch die aufkeimende Freundschaft zu Anja (Kaya Wilkins), wühlt Thelma auf. Die Gefühle werden zunehmend stärker, was mit der Erziehung ihrer christlichen Eltern kollidiert…
Psychologisch fundierte Entwicklung der Geschichte
Originaltitel | Thelma |
Jahr | 2018 |
Land | Norwegen |
Genre | Mystery, Drama, LGBT |
Regisseur | Joachim Trier |
Cast | Thelma: Eili Harboe Anja: Kaya Wilkins Trond: Henrik Rafaelsen Unni: Ellen Dorrit Petersen |
Laufzeit | 116 Minuten |
FSK |
Die Geschichte, die vollständig aus Thelmas Perspektive erzählt wird, beginnt zunächst mit Fragmenten. Erst nach und nach beginnt der Zuschauer sich in Thelmas Gefühlslage hineinzuversetzen und ahnt bereits, dass die Gründe für das angespannte Familienverhältnis tief in der Vergangenheit liegen. Bis diese Geheimnisse gelüftet werden, wird Thelmas neues Leben Schritt für Schritt erforscht. Die Schwierigkeit, auf andere Menschen zuzugehen, aber auch mit dem offensiven Verhalten anderer klarzukommen, wird dabei ausgelotet. Dabei befindet sich das Mädchen ununterbrochen im Zwiespalt zwischen elterlicher Doktrin und der Entwicklung eigener Bedürfnisse. Ihre Fragilität ist der Ausdruck von Thelmas Innenleben, in dem sich Machtgefüge verschieben. Ein weiterer Kampf ist der Wunsch, angepasst zu sein, welcher sich nur schwer mit der Andersartigkeit der Titelfigur vereinbaren lässt. Das macht den Stoff zu einem komplexen Charakterdrama, dessen Verlauf kaum vorhersehbar ist.
Gekonnter Balance-Akt
Die großen Überraschungs- und Spannungsmomente entstehen, wenn sich das bewahrheitet, was der Zuschauer bereits erahnte: Mit Thelma stimmt etwas nicht. Doch auch ihre Fähigkeiten und deren Tragweite sind alles andere als einfach zu greifen. Hierfür nehmen sich Joachim Trier und sein Co-Autor Eskil Vogt bis zum Schluss Zeit, um die Spannungsschraube unentwegt anzuziehen. Jedoch: Thelma ist kein Actionfilm. Die meisten Ereignisse spielen sich auf metaphorischer Ebene ab und tragen Stück für Stück zur Entwicklung von Thelmas Identität bei. Vor allem die eindringlichen Bilder sorgen für große Kino-Momente. Manche Einstellung scheint altbekannt zu sein und im Rahmen dessen zu liegen, wie der Zuschauer eine Situation wahrnimmt, während andere Szenen dagegen über- und unnatürlich anmuten mögen, was den emotionalen Sog wesentlich verstärkt. Das Risiko, diese Szenen ad absurdum zu führen, ist hoch und eine Falle, in die schwächere Filme schnell tappen. Selten wird es wie bei Thelma so glasklar und meisterhaft ausgeführt, wie die Realität des Augenblicks in ein pures emotionales Erleben übergeht.
Exzellente Darstellerinnen
Auch das stärkste Drehbuch und die dichteste Atmosphäre funktionieren nur bedingt ohne einen starken Cast. Die exzellente Schauspielerriege macht sich die Geschichte zu eigen und liefert glaubwürdige Leistungen ab. Elli Harboes Äußeres transportiert Thelmas Unsicherheit und Verletzbarkeit auf eine natürliche Weise. Doch auch die Ambivalenz der Figur, die in mancher Hinsicht an Stephen Kings Carrie erinnert, beherrscht sie. Für das Model Kaya Wilkins ist Anja die erste große Rolle. Ihre Möglichkeiten sind verglichen mit Harboes Figur eingeschränkt, da Anjas Entwicklung langsam von statten geht und sie über weite Strecken nett, aber geheimnisvoll bleibt. Die Chemie zwischen den beiden Mädchen ist jedoch überzeugend und nimmt schnell Fahrt auf, sodass jeder emotionale Ausschlag der beiden eine große Auswirkung besitzt.
Fazit
Thelma beeindruckt mich schwer. Der ambivalente Stoff ist so stilsicher und sattelfest zu einem großen Ganzen verwoben worden, dass sich die Frage nach Traum, Realität und allem dazwischen gar nicht mehr stellen muss. Das Drehbuch ist derart gut durchdacht, dass der Film keinerlei Angriffsfläche bietet. Das breite Publikum wird ob der langsamer erzählten ersten Hälfte wohl erst einmal aufgeben, doch dranbleiben wird belohnt. Dass Superkräfte nicht zwangsweise mit einem Actionspektakel Hand in Hand gehen müssen, ist hiermit bewiesen.
Zweite Meinung:
Der Trailer zum Film erreichte mich über das Versprechen einer Romanze zwischen zwei Frauen. Es war dann aber vor allem diese unheilvolle Stimmung, die den Titel für mich als unbedingt-vormerken zementierte. Und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Mit Betonung auf sehen, denn die Bilderwelten, Kamerafahrten und -einstellungen machen eine Menge aus (für Epileptiker sei allerdings für zumindest eine Szene eine Warnung ausgesprochen). Am Ende des Films schoss mir ebenfalls durch den Kopf, dass Thelma sich perfekt im Universum der X-Men ansiedeln lassen könnte. Das Erwachen unbekannter Kräfte ist beängstigend und die streng religiöse Erziehung kollidiert auch sonst mit dem Alltagsleben an der Uni. Die Elemente sind großartig zusammengefügt und hinterlassen eine tolle Charakterstudie. Nicht unbedingt geeignet für einen entspannt-unterhaltsamen Filmabend, aber der perfekte Kontrast zu den gängigen Stoffen mit übernatürlichem Touch. Perfekt auch für Fans von Serien wie Twilight Zone oder Outer Limits, die auf die besonderen Folgen mit sozialkritischem Biss warten.