Mysterious Skin – Unter die Haut

Manchmal kann ein Gedächtnisverlust eine Schutzfunktion des Körpers sein, um besonders grausame Ereignisse zu verdrängen. Doch werden Erinnerungen nach und nach wach und zeichnen sich Eindrücke des Erlebten mit zunehmendem Kontext ab, kann das traumatische Folgen haben. Ähnlich ergeht es einem der beiden Hauptcharaktere in Mysterious Skin – Unter die Haut von Gregg Araki (Kaboom). Zunächst ist nicht erkennbar, wie der Blackout eines Schülers mit der Geschichte eines anderen zusammenhängen mag, doch im Laufe der Spielzeit kommen immer mehr schockierende Enthüllungen ans Tageslicht.

  

USA, Sommer 1981: Der achtjährige Brian Lackey (George Webster) erlebt einen Blackout und als er wieder zu sich kommt, liegt er mit blutender Nase im Keller. Er ist der festen Überzeugung, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Der gleichaltrige Neil McCormick (Chase Ellison, Werwolf wider Willen) befasst sich viel eher mit seiner aufkeimenden Sexualität. Er bemerkt, dass er Männerkörper anziehend findet. Ausgerechnet sein Baseballcoach (Bill Sage, American Psycho) bringt die Hormone besonders in Wallung. Dieser bemerkt die Gefühlsregungen des Achtjährigen und beginnt eine Beziehung mit dem Schüler. Zwei Jahre später kommt es zu einem Ereignis, an dem sich die Schicksale beider Kinder vereinen. Während Neil einen geistig verwirrten Jungen sexuell missbraucht, erlebt das Muttersöhnchen Brian einen weiteren Blackout, den er mit Aliens in Verbindung bringt. Zehn Jahre später haben sich beide Jungen in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Während Neil (nun Joseph Gordon-Levitt, Looper) als Stricher Geld verdient, hängt Brian (nun Brady Corbet, Dreizehn) noch immer in UFO-Theorien fest. In einem Traum erkennt er einen Zusammenhang zu Neil und macht sich auf die Suche nach ihm…

Starker Tobak

Originaltitel Mysterious Skin
Jahr 2004
Land USA
Genre Drama
Regisseur Gregg Araki
Cast Neil: Joseph Gordon-Levitt
Brian: Brady Corbet
Eric: Jeffrey Licon
Avalyn Friesen: Mary Lynn Rajskub
Mrs. McCormick: Elisabeth Shue
Coach: Bill Sage
Wendy: Michelle Trachtenberg
Laufzeit 105 Minuten
FSK
Veröffentlichung: 14. August 2020

Mysterious Skin – Unter die Haut ist weit davon entfernt, ein leicht verdaulicher Stoff zu sein. Ähnlich wie in Donnie Darko wird die Kindheit eines Jungen durch den Glauben an das Übernatürliche so stark geprägt, dass sich dieser von seiner Umwelt emanzipiert, sodass die Kluft zwischen ihm und der Gesellschaft immer größer wird. Ebenso bleibt hier lange im Unklaren, was nun wirklich vorgefallen ist, dass Brians Blackout keine anderen Schlüsse als eine Entführung zulässt. Von diesen Vergleichen einmal abgesehen, trägt der Film eine weitere Last mit sich. Die komplexe Thematik einer pädophilen Beziehung und das weit abseits irgendwelcher Plakativitäten oder Stammtischtobereien. Der Regisseur und Begründer des New Queer Cinema, Gregg Araki, machte sich in konservativen Kreisen keine Freunde mit diesem Film. Dabei geht es ihm nicht darum, Pädophilie zu verherrlichen, sondern die Grausamkeit eines Verbrechens aufzuzeigen, welches bleibende Folgen mit sich trägt.

Sensibler Umgang mit Sexualität

Lange Zeit bleibt völlig offen, was der Regisseur mit den beiden Erzählsträngen anfangen will. Beide Geschichten erfahren eine dichte Inszenierung, sodass sie auch als eigenständige Filme funktionieren würden. Wenn sich kurz vor Ende das große Ganze ergibt, wird erst klar, weshalb diese Vorgehensweise gewählt wurde. Der Zuschauer soll möglichst neutral an beide Geschichten herangehen und alles aus der Perspektive der Kinder erleben. Die Erwachsenen sind allenfalls Nebenfiguren (die zwar die Kinder prägen, doch man bekommt nicht viel von ihnen mit). Dazu zählt auch die Entdeckung der Sexualität, die mit zunehmendem Alter immer expliziter in ihrer Darstellung wird. So ist der Liebestummel im Kindesalter noch etwas ganz anderes, mit Spielerei (und fliegenden Frühstückscerealien) verbunden, während im Erwachsenenalter raue Züge dazukommen. Nur plakativ wird es nie, dafür beweist Araki stets Fingerspitzengefühl. Der Täter ist hier so charmant bis liebevoll, dass es schwer ist, ihn ohne Reflexion nicht irgendwie zu mögen.

Keine Moralapostel

Anders als in Juno, wo sexueller Missbrauch streng bewertet wird, fehlt hier ein ermahnender Zeigefinger. Der Zuschauer muss sich zwingend selbst mit dem Gesehenen auseinandersetzen. Auch, wenn Neil zunächst Opfer ist, nimmt man ihn nicht als solches wahr. Er hat es weniger leicht als Brian, Mitleidspunkte oder Sympathien zu sammeln. Doch er sorgt dafür, dass der Zuschauer in sich gehen muss, um eine Wertung zu vergeben. Joseph Gordon-Levitt stand während der Dreharbeiten noch am Anfang seiner Karriere, die ihn mit (500) Days of Summer, Inception und The Dark Knight Rises in Hollywoods A-Riege beförderte. Er verkörpert die Gleichgültigkeit und Zerrissenheit Neils glaubhaft und mimt dabei keinen großen Sympathieträger.

Fazit

Mysterious Skin ist ein mutiger Film, der es nicht nötig hat, skandalträchtig zu sein. Es ist wichtig, solche Geschichten zu erzählen und gleichzeitig dabei das notwendige Fingerspitzengefühl mitzubringen, das Gregg Araki besitzt. Gleichzeitig ist dies kein Film, den man sich ein zweites oder drittes Mal ansehen möchte. Dafür ist die Erzählweise zu unaufgeregt, doch die Komplexität des Stoffes gleichzeitig zu hoch. Die fragmentarische Darstellung beider Geschichten tut ihr Übriges, um dem Sehgenuss ein hohes Maß an Aufmerksamkeit abzufordern.

© 99999


Seit dem 14. August 2020 im Handel erhältlich:

Ayres

Ayres ist ein richtiger Horror- & Mystery-Junkie, liebt gute Point’n’Click-Adventures und ist Fighting Games nie abgeneigt. Besonders spannend findet er Psychologie, deshalb werden in seinem Wohnzimmer regelmäßig "Die Werwölfe von Düsterwald"-Abende veranstaltet. Sein teuerstes Hobby ist das Sammeln von Steelbooks. In seinem Besitz befinden sich mehr als 100 Blu-Ray Steelbooks aus aller Welt.

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