Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra
„Es gibt keine Mafia. Das ist einer Erfindung der Presse.“
Regisseur Marco Bellocchio (Teufel im Leib, Der Fall Aldo Moro) hat sich seines Lebens immer schwierigen Themen gewidmet und versteht es, das Publikum zu verführen und zu ekeln. Sei es um die Sorge des Wohlergehens eines Mörders und Schlächters wie Tomasso Buscetta (Pierfrancesco Favino, Die Chroniken von Narnia: Prinz Kaspian von Narnia) oder um den Horror des eiskalten Salvatore Riina, der eine komplette Blutlinie auslöschen ließ – angefangen von 6-jährigen Kindern in Salzsäure bis hin zu den abgetrennten Köpfen der Frauen. In Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra gibt es kein Gut, nur die Mafia im Schafspelz und Engelszungen. Und die Justiz? Ein Spiegel- und Abziehbild des heutigen Italiens. Der Film ist ab dem 27. November 2020 im Handel erhältlich.
Es herrscht Krieg auf den Straßen Italiens. Palermo ist Umschlagplatz Nummer 1 von für Europa bestimmtes Heroin. Verschiedene Gruppierungen, die sizilianische Cosa Nostra, die Clans aus Palermo und dem neuen, aufstrebenden Clan der Corleonesi liefern sich eine erbitterte Schlacht um die Vorherrschaft. Inmitten des Krieges soll es Anfang der 80er ein Friedensangebot geben, eine Art Waffenstillstand wegen gemeinsamer Interessen. Mafiaboss Tommaso „Boss zweier Welten“ Buscetta (Pierfrancesco Favino) traut dem Ganzen nicht und flieht mit seiner Familie nach Brasilien. Nur um festzustellen, dass seine beiden Söhne verschwunden sind und in Brasilien die Korruption der Justiz auf eine neue Stufe eskaliert. Ausgeliefert, verraten, seine Angehörigen systematisch getötet und von den Vertrauten Buscettas verlassen, fasst Don Masino einen Entschluss ganz spezieller Rache: Eine Zeugenaussage gegen die Mafia. Zusammen mit Ermittlungsrichter Giovianni Falcone legt er den Grundstein für die Maxi-Prozesse.
Zynischer Anfang
Originaltitel | Il Traditore |
Jahr | 2019 |
Land | Italien / Frankreich / Deutschland / Brasilien |
Genre | Drama, Krimi, Thriller |
Regie | Marco Bellocchio |
Cast | Pierfrancesco Favino: Tommaso Buscetta Luigi Lo Cascio: Totuccio Contorno Fausto Russo Alesi: Giovanni Falcone Maria Fernanda Cândido: Maria Cristina de Almeida Guimarães Fabrizio Ferracane: Pippo Calò |
Laufzeit | 153 Minuten |
FSK | |
Veröffentlichung: 27. November 2020 |
Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra verlangt dem Zuschauer einiges an Wissen ab. Sei es über Filmsprache, Musik, italienische Gepflogenheiten und Regisseur Marco Bellocchio. Dieser hat schon in seinen Anfangsjahren die Kirche unter anderem als Überwachungsstaat dargestellt und sich mit seiner unverblümten direkten Ansprache darüber in seinen Filmen keinen Gefallen getan. Ein insbesondere sehr sensibles Thema in Italien ist die Mafia. Auch in diesem Werk wird der Zuschauer Zeuge, wie die Bevölkerung der Mafia nicht abgeneigt, nein: sogar dankbar für Arbeit und „Sicherheit“ ist. Die Existenz der Mafia – diese Organisation wurde bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (1950) hinein von den öffentlichen Organen geleugnet bzw. heruntergespielt. In den 1960ern entwickelten sich in der Mafiahochburg Sizilien schrittweise ein Bewusstsein und eine Antimafia-Bewegung. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ein breites Bündnis aus Nutznießern der organisierten Kriminalität, willfährigen Politikern und der katholischen Kirche ein diesbezügliches Problem geleugnet. Hier schließt sich dann wieder der Kreis, den Bellocchio in fast jedem seiner Filme thematisiert.
Der Auftakt des Films wirft den Zuschauer inmitten des sogenannten zweiten Mafiakriegs. Zynisch läuft ein Counter unermüdlich links im Bild hoch und verdeutlicht die schieren Opfer der Mafiadisputen. Der Zuschauer wird in kühlen, fast beiläufigen Bildern Zeuge, wie Jugendliche verstümmelt, erschossen, erdrosselt, überfahren oder ertrunken werden. Zwischendurch macht der Film eine kurze Pause, um schriftlich ein Opfer festzuhalten. Zynischer geht es nicht, dass es sich um die ach so armen Mafiosi handelt. Der Rest? Kollateralschaden in den Augen der Mafia. Denn die Clans bestehen aus Ehrenmännern. So auch Don Masino. Er hurte im Knast rum, bestellte sich Prostituierte und war sechsmal verheiratet. Er lebt lieber das Leben, als dass er befiehlt. So eine Aussage von ihm. Dass dies von enormer Wichtigkeit ist, wird dem Zuschauer erst später bewusst.
„Selbst die mächtigsten Männer können irgendwann gestürzt werden“
Die blutige Fehde zwischen den Clans, wo Freund und Feind, Verräter, Moral und Anstand spurlos verschwinden und verschmelzen, eskaliert. So ist der Tod beider Söhne Bruscettas und die unglaubliche Brutalität der brasilianischen Justiz der Grund dafür, dass er seine Niederlage eingesteht.
„Dies ist der Prozess gegen die ‚Cosa Nostra‘ genannte Mafia-Organisation …“
Das Highlight im Film sind die im Justizbunker gedrehten Justiz-Szenen. Buscetta wird zum wichtigsten Kronzeugen. Das geht nicht geräuschlos vorbei. Die Menschen sind zwiegespalten, die Mafia spielt den „Gehörnten“ herunter, zeigt dem Gericht den gedachten Mittelfinger ins Gesicht. Das Gericht scheint schier machtlos gegen so viel Ignoranz und Arroganz gegenüber dem staatlichen Apparat. Man versucht Buscetta zu beeinflussen und einzuschüchtern. Buscetta lebt mit seiner Familie in den USA, im Zeugenschutzprogramm und lässt es sich gut gehen. Genau diese staatlichen Zuwendungen, die 200 Millionen Lira – was heute 103.292.000 EUR wären, damalige Kaufkraft nicht eingerechnet. Diese Zahlung war einmalig und danach kam noch mehr. Der Steuerzahler sollte Buscetta als Feind sehen, nicht die Ehrenmänner in den „Käfigen“. Doch Buscetta trotzt den gezielten Spitzen und so kommt es, dass sich sein ehemaliger bester Freund Giuseppe „Pippo“ Calò zu einer Gegenüberstellung im Gericht entscheidet. Die Motivation ist klar, Buscetta als Lügner entlarven und die Ehrenmänner zurechtrücken. Kleine Strafdelikte vielleicht, aber man kenne sich doch nicht. Und so sind genau diese Wortgefechte das Highlight. Die Art und Weise, wie vorher die Gewalt in Akt eins, vor dem Prozess dargestellt wurde, war bewusst unterkühlt. Hier zelebriert Bellocchio Zerrissenheit, Demut und Verrat gekonnt in kurzen Sätzen und kleinen Gesten.
Eine staatliche Trashtalkshow
Der Ausgang, das Ergebnis ist nicht spannend, man weiß seit über 30 Jahren, was passiert ist. Nein, es sind die Auseinandersetzungen zwischen der Cosa Nostra wie auch mit der Justiz. Der Film gewinnt eine groteske Note und erinnert an die letzten Auftritte eines Berlusconi. Die Schamlosigkeit, mit der die Mafiosi, auch Buscetta auftreten, die Missachtung gegenüber Zivilisation, Gesetzen, dummdreiste Lügen, absurde Entschuldigungen – all das macht zusammen eine Schlammschlacht, die man im Grunde nur dem Stereotyp des Italieners ankreiden würde. Und dennoch hält sich das Drehbuch fast minutiös genau an die Geschehnisse zur damaligen Zeit. Fasziniert und angeekelt ertappt man sich dabei, über Dinge zu lachen oder zu grinsen, die einen außerhalb des Bildschirmes maßlos mitnehmen würden. Damit entlarvt der Prozess ein weiteres Problem. Die Verwurzlung der Mafia bis in den höchsten Kreisen. Um genau das zu unterstreichen, fährt der Film eine der gelungensten Aufnahmen der jüngsten Filmgeschichte auf.
Fazit
Unaufdringlich, ruhig, manchmal schon fast zu sehr ins Detail verliebt präsentiert sich Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra mit über 150 Minuten Laufzeit als würdiges Pendant zu Sergio Leones Es war ein Mal in Amerika oder Copollas Der Pate. Dennoch merkt man sehr schnell, dass der Film etwas anderes im Sinn hat. Die genannten Filme wären nicht vollständig, wenn man Martin Scorseses Goodfellas auslässt. Insbesondere, da man einige Parallelen in den Figuren aus beiden Filmen, Henry Hill in Goodfellas und Tomasso Buscetta in Il Traditore, findet. Denn während Hill den Verlust des Wohlstandes zutiefst bedauert, der Film dadurch bewusst oder unbewusst die Mafia romantisiert, lässt Bellocchio durch seine zurückhaltende Regie keinen Zweifel daran, was richtig und was falsch ist. Nämlich, dass keiner der Protagonisten ein Ehrenmann, geschweige denn ein Heiliger ist. Dies geschieht mit einer schier unglaublichen Hingabe zum Detail. Sei es die Wahl Pierfrancesco Favino Buscetta mit der bekannten Vorliebe zum Seidenhemd oder die authentischen Wortgefechte zwischen den Mafiosi. Die 80er leben in diesem Film und wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, man sieht einen Film, der in jenem Jahrzehnt gedreht wurde. Realismus und teilweise schon spröde Bilder, um die Gewalt so nüchtern wie möglich darzustellen. Hier sollen nicht die Mafia und die Gewalt zelebriert werden. Bellocchio verarbeitet in 153 Minuten ein Stück italienische Geschichte. Ein dunkles Kapitel, das bis heute nicht geschlossen ist. Eine tolle Produktion und Kontrastprogramm zum klassischen Mafiafilm-Verlauf, auch wenn Bellocchio sich hier und da an den Platzhirschen Leone und Scorsese orientiert. Dennoch bleibt es ein europäischer Film und fühlt sich dadurch erfrischend neu, aber dennoch vertraut an.
© Pandora Film
Veröffentlichung: 27. November 2020