Der unsichtbare Gast
Ein Raum, ein Mann und eine Leiche. Was auf den ersten Blick völlig offensichtlich ist, entpuppt sich ab dem zweiten Blick als verschachteltes Mysterium. Bereits mit seinem Film The Body sorgte der Spanier Oriol Paulo für Aufsehen. Mit seinem Zweitwerk Der unsichtbare Gast stellt er unter Beweis, dass er den Plot Twist ebenso gut beherrscht wie die clevere Inszenierung eines komplexen Flashback-Thrillers. An diesem Film hätte selbst Alfred Hitchcock seine Freude gehabt, denn auf der Suche nach dem Mörder der Leiche wird der Zuschauer immer wieder vor neue Rätsel gestellt und muss immer wieder hinterfragen, wo die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld liegen. Nachdem der Film seine Deutschland-Premiere auf dem Fantasy Filmfest feierte, erschien er Anfang 2017 schließlich in Deutschland und ist für deutsche Zuschauer über Netflix abrufbar.
Der erfolgreiche Adrián Doria (Mario Casas, Drei Meter über dem Himmel) erwacht in seinem Hotel. Im Badezimmer liegt eine Leiche. Nicht irgendeine, sondern die seiner heimlichen Geliebten Laura (Bárbara Lennie, Magical Girl). Niemand außer ihm befindet sich in diesem Zimmer und die Türe ist ebenfalls verschlossen. Für die hereinstürmende Polizei ist alles offensichtlich: Obwohl er seine Unschuld beteuert, sprechen die Beweise gegen Adrián. Um sich bestmöglich zu verteidigen, nimmt er sich die Top-Anwältin Virginia Goodman (Ana Wagener, Biutiful). Gemeinsam konstruieren sie den Hergang der Tat, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Doch neue Zeugen tauchen auf und die Lage spitzt sich für Adrián zu …
Auf die Plätze, fertig, Twist-Stakkato
Originaltitel | Contratiempo |
Jahr | 2016 |
Land | Spanien |
Genre | Mystery-Thriller |
Regie | Oriol Paulo |
Cast | Adrián Doria: Mario Casas Virginia Goodman: Ana Wagener Laura Vidal: Bárbara Lennie Tomás Garrido: Jose Coronado |
Laufzeit | 106 Minuten |
FSK |
Der unsichtbare Gast vereint gleich zwei Subgenres in sich. Auf der einen Seite haben wir es mit einer klassischen Murder Mystery/Whodunit-Geschichte zu tun. Adrián versucht gemeinsam mit seiner Anwältin herauszufinden, wer hinter dem Mord an seiner Geliebten steckt. Gleichzeitig trifft das eng verwandte Subgenre Locked Room Mystery auf den Film zu, denn innerhalb des verschlossenen Raumes gilt es, die Methode der Durchführung des Mordes zu ergründen. Sogar eingefleischte Hobby-Detektive und Fans beider Genres werden es hier schwer haben, der Auflösung auf die Spur zu kommen. Denn selbst wer den richtigen Riecher besitzt, wird nur einen Teil des Rätsels lösen. Oriol Paulo, der auch das Drehbuch schrieb, liebt es, seine Zuschauer an der Nase herumzuführen und mit Plot Twists bei Laune zu halten. Die große Herausforderung eines Films wie diesem ist es, für die Zuschauer stets plausibel und nachvollziehbar zu bleiben. Insbesondere dann, wenn die Perspektiven wechseln. Die Rekonstruktion des Geschehens setzt voraus, dass auch die Geschichte aus dem Blickwinkel der Geliebten Laura nachvollziehbar wird. Dadurch weiß der Zuschauer immer ein wenig mehr als Adrián, aber trotzdem kennt er zu keinem Zeitpunkt die volle Wahrheit. Ein Kunststück für sich und auch dem Originaltitel “Contratiempo” (deutsch: Wendung) sehr nahe kommend. Nur mit dem finalen Twist wird die Nachvollziehbarkeit arg auf die Probe gestellt.
Niemand lässt sich in die Karten schauen
Erwähnenswert ist neben der hochspannenden Erzählung auch die Musik von Fernando Velázquez, dessen elektrisierende Klänge echtes Gänsehaut-Potenzial besitzen und die unterkühlten Bilder noch geheimnisvoller wirken lassen. Audiovisuell fällt alles sehr geheimnisvoll aus, passend zu der Distanz, die zwischen Adrián und Virginia herrscht. Obwohl beide an einem Strang ziehen müssen, ist zu keinem Zeitpunkt offensichtlich, wer dem anderen wirklich vertraut oder wohinter sich eine Lüge verbergen könnte. Das sorgt für schwitzige Hände auf beiden Seiten. Auch mit Charakterentwicklung wird nicht gegeizt. Adrián könnte als Protagonist mehr Ecken und Kanten besitzen, doch seine Toughness fällt mit verstreichender Laufzeit. Virginia hingegen ist eine raffinierte Anwältin, die es versteht, ihren Klienten mittels Stoppuhr aus der Reserve zu locken. Bárbara Lennie gelingt es, ihre Figur Laura als Femme Fatale darzustellen, deren Spiel so ambivalent ausfällt, dass lange Zeit unklar ist, welches Ziel sie verfolgt.
Fazit
Der unsichtbare Gast erfordert die volle Aufmerksamkeit und belohnt diese mit einer verwinkelten Geschichte, die – ebenso wie ihre Hauptfigur – immer wieder auf Glaubwürdigkeit geprüft werden will. Freunde von Sherlock Holmes und klassischen Krimis kommen bei dieser spanischen Produktion ebenso auf ihre Kosten wie Whodunit-Tüftler. Bei einer hohen Anzahl an Twists & Turns besteht immer die Gefahr, sich zu verzetteln, doch abgesehen von einer Over the Top-Aktion im Finale versteht Oriol Paulo es, immer den Boden unter den Füßen zu behalten. Die Dramaturgie des Drehbuchs erinnert an den Klassiker Die üblichen Verdächtigen und geht ähnlich gut auf.
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