Bloody Oranges

Manche Filme sind so speziell, komplex und unvorhersehbar, dass sich unweigerlich die Frage stellt, für wen sie eigentlich gedreht wurden. Bloody Oranges von Jean-Christophe Meurisse (Apnée) ist ein solcher Fall. Beginnt der Film noch als bitterböse Gesellschaftssatire, in der die Schicksale mehrerer Einzelpersonen verwoben werden, werden in der zweiten Hälfte am fortlaufenden Band Tabus gebrochen. Nahe am Skandalfilm, schockierend und vor allem bitterböse-bissig! Wenn hier Kleinigkeiten zur absoluten Eskalation führen, kann man kaum wegsehen. Bloody Oranges zählte zu den Überraschungsfilmen des Fantasy Filmfest 2021. Ob der Film angesichts der heiklen Frankreich-relevanten Thematik und seines ausufernden Gewaltpegels den Sprung nach Deutschland schafft, ist eher zweifelhaft.

   

Laurence (Lorella Cravotta, Die anonymen Romantiker) und Olivier (Olivier Saladin, Apnée) wirken nach außen wie ein glückliches Pärchen, das trotz des Rentenalters viel Spaß am Rock’n’Roll-Tanzen hat. Die Liebe dazu motiviert sie schließlich auch, sich für ein Tanzturnier anzumelden, dessen Preis ein nagelneuer SUV ist. Die Euphorie seiner Eltern ist ihrem Sohn Alexandre (Alexandre Steiger, Words in Your Hair) eher peinlich. Als Anwalt ist ihm Seriosität am wichtigsten. Während er also Karriere macht, ahnt er nicht, dass seine Eltern in enormen Schulden stecken und der SUV im Falle eines Sieges dazu dienen soll, die Schuldensumme bei der Bank zu verringern. Damit steht das Paar stellvertretend für viele Bürger Frankreichs, die von sozialer Ungleichheit betroffen sind. In heller Aufruhr ist auch das Ministerium unter Minister Stéphane Lemarchand (Christophe Paou, Der Fremde am See), der kurz davor steht, einen Skandal auszulösen, da eine Journalistin ihm auf die Schliche gekommen ist und die medienwirksame Offenbarung eines Geheimkontos droht. Und dann ist da noch Louise (Lilith Grasmug, Blühendes Verlangen), die sich bei einer Gynäkologin Tipps für ihr erstes Mal holt und auch kurz darauf ihre Jungfräulichkeit verlieren wird …

Wachsende gesellschaftliche Diskrepanzen

Originaltitel Oranges Sanguines
Jahr 2021
Land Frankreich
Genre Satire, Horror
Regie Jean-Christophe Meurisse
Cast Laurence: Lorella Cravotta
Olivier: Olivier Saladin
Alexandre: Alexandre Steiger
Stéphane: Christophe Paou
Louise: Lilith Grasmug
Laufzeit 102 Minuten
FSK unbekannt
Titel im Programm des Fantasy Filmfest 2021

Bereits ab der ersten Szene zeigt sich Bloody Oranges als grenzensprengender Kommentar auf die französische Gesellschaft. Jean-Christophe Meurisse lässt keine Gelegenheit aus, den Daumen in jede Wunde zu drücken, die auch weh tut. Das macht er nicht einfach so, denn er nutzt das Medium des Films dazu, um die Sozialstrukturen des Landes mit einem kritischen Kommentar zu versehen. Die gesellschaftliche Kluft zwischen Volk und Politik ist ein großer Graben, um das herum der Regisseur sein Figurenensemble positioniert. Charaktere verschiedenen Alters und Geschlechts, die in unterschiedlichen Sozialklassen leben. Am Beispiel von Alexandre und seinen Eltern wird deutlich, dass selbst innerhalb von Familien gravierende Unterschiede vorherrschen können und man auch jeden nur zu einem Bruchteil kennt.

Messerscharfe Satire ohne Grenzen und Tabus

Wie und warum die Schicksalsfäden der einzelnen Figuren miteinander verknüpft sind, bleibt für Zuschauer:innen erst einmal offen. Abwechselnd folgt die Handlung den einzelnen Charakteren durch Situationen ihres Alltags, die einen nachvollziehbaren Einblick in ihr Leben geben. Was sie antreibt, wovor sie sich fürchten. Die Geschichte ist voller Rechthaber, eitlen Pfauen und Angebern, die permanent heiße Luft absondern und sich aufplustern. Es ist schier unerträglich, dabei zuzusehen, wie sie sich positionieren, während Minderheiten benachteiligt werden. Es bleibt aber nicht bei Politik allein: Meurisse holt zum Rundumschlag gegen Political Correctness, Social Justice Warriors und Mikromanagement. Der Regisseur  besitzt ein wunderbares Gefühl für das Timing seiner Gags, nicht in jedem Fall aber auch dafür, wo Grenzen gezogen werden sollten. Insbesondere Gags, die sich um Vergewaltigung drehen und vor allem grafisch dargestellt werden, verleiten nicht jeden automatisch auch zum Lachen. Unangenehme und köstliche Momente geben sich die Klinke.

Blutige Verdorbenheit

Ab der Hälfte nimmt der Film eine Wendung, die man schlichtweg nicht kommen sieht. Er schlägt in skrupellose und zynische Gewalt um. Mit einem Zitat von Antonio Gramsci („Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.“) wird ein Umbruch eingeleitet, der zu einer Abrechnung mit dem Versagen der Politik führt. Das Schicksal vieler Charaktere geht unter die Haut und ist mitunter entwürdigend. Meurisse rüttelt sein Publikum, von denen Teile sicherlich zwischen den spitzen Wortsalven der ersten halben Stunde eingenickt sind, mit einer Brutalität wach, die man vielleicht bei einem Alexandre Aja oder einem Eli Roth erwartet, nicht aber in Bloody Oranges. Schmerzhaft und schamlos. Ein etwas anderer Racheplot.

Fazit

Bloody Oranges unterhält ebenso, wie der Film weh tut. Ein bitterböser, genial-durchdachter Blick auf Frankreichs Gesellschaftsstruktur. Ein echter Schlag in die Magengrube. Zum einen, weil die Schicksale der Figuren einfach massiv unbequem sind, zum anderen, weil der Gewaltpegel in seiner Wucht überrascht und vor allem zartbesaitete Gemüter, die sich einfach auf eine fiese französische Komödie eingestellt haben, nahezu in die Flucht schlägt. Bloody Oranges ist damit ein außergewöhnlicher Film, der es schwer hat, das richtige Publikum für sich zu finden. Intelligent und brutal zugleich ist eben eine seltene Kombination, die in diesem Fall in einen cleveren Protestfilm mündet.

© Best Friend Forever

Ayres

Ayres ist ein richtiger Horror- & Mystery-Junkie, liebt gute Point’n’Click-Adventures und ist Fighting Games nie abgeneigt. Besonders spannend findet er Psychologie, deshalb werden in seinem Wohnzimmer regelmäßig "Die Werwölfe von Düsterwald"-Abende veranstaltet. Sein teuerstes Hobby ist das Sammeln von Steelbooks. In seinem Besitz befinden sich mehr als 100 Blu-Ray Steelbooks aus aller Welt.

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