Bis zum bitteren Ende
Geschichten aus dem Wilden Westen gibt es viele, auch wenn deren Blütezeit längst vorüber ist. Doch ist wirklich schon alles erzählt, was sich erzählen lässt? Mit dem Oneshot Bis zum bitteren Ende, der im Februar 2021 im Splitter Verlag erschienen ist, wird ein unverklärter Blick auf die Zeit des Umbruchs geworfen, als die Eisenbahn sich ihren Weg durch den Kontinent bahnte und den Weg für den Fortschritt frei machte. Durch den alternden Cowboy Russell erfährt die Leserschaft, was dieser Fortschritt mit den Menschen in einer Welt macht, in der Altes seinen Bestand verliert und Neues sowohl Hoffnung als auch Verzweiflung mit sich führt.
Der Ausbau des Eisenbahnnetzes bedeutet für die großen amerikanischen Viehtriebe das Aus. Der alternde Cowboy Russell treibt mit seiner Mannschaft seine letzte Herde von 1200 Rindern nach Montana, danach will er sich mit Vorarbeiter Kirby und seinem geistig behinderten Adoptivsohn Bennett auf einer Farm niederlassen. Doch unterwegs wird Bennett in dem kleinen Städtchen Sundance getötet. Bennetts Tod wird als Unfall abgeschrieben und Russell, der auf ausgleichende Gerechtigkeit pocht, aus der Stadt gejagt. Aber Russell gibt nicht auf. Er heuert eine Gruppe arbeitsloser Cowboys an, um Druck auf die Stadt auszuüben. Da diese kurz vor dem Zuschlag für einen der begehrten Umschlagbahnhöfe entlang der geplanten Eisenbahnlinie steht, reagieren die von Zukunftsangst gequälten Städter gnadenlos. Kirby und die neue Lehrerin von Sundance, Miss Collins, finden sich wieder im Kampf zwischen dem Mann, der Rache nehmen will, und der Stadt, die zu überleben versucht.
Nicht jeder kann sich anpassen
Originaltitel | Jusqu’au dernier |
Jahr | 2019 |
Land | Frankreich |
Genre | Western |
Autor | Jérôme Félix |
Zeichner | Paul Gastine |
Verlag | Splitter |
Veröffentlichung: 24. Februar 2021 |
Russell ist ein Cowboy vom alten Schlag, stolz und unabhängig, hart sich und anderen gegenüber, aber auch fürsorglich und vorausschauend. Er gehört zu den Menschen, die sich nicht gut anpassen können. Orson, Bankdirektor von Sundance, bringt sowohl die Veränderungen und Möglichkeiten der neuen Zeit als auch Russells Persönlichkeit kurz und knapp auf den Punkt, als er diesem sagt: „ Gestern Barbier, heute Bankier … alles verändert sich … alles, nur du nicht.“ Zwar hat Russell Zukunftspläne: Um für seinen Adoptivsohn Bennett, der seine einzige Familie ist, eine sichere Zukunft zu schaffen, will der Cowboy eine Farm aufbauen und bietet sogar dem mittellosen Kirby die Teilhaberschaft an. Doch in dem Moment, in dem Bennett stirbt, den er trotz aller Härte, die er ihm gegenüber gezeigt hat, sehr geliebt hat, bricht sein Lebensinhalt weg. Für sich selbst sieht er weder eine Zukunft als angestellter Viehtreiber noch als Farmer. Den einzigen Ausweg aus seinem nun sinnlos gewordenen Leben findet er in einem Rachefeldzug, den er nur verlieren kann. Und dazu benutzt er skrupellos Kirby, ohne darüber nachzudenken, welche Last er dem jungen Mann damit auferlegt.
Von Romantik keine Spur
In einer Zeit, in der sich alles ändert und dadurch Existenzen auf dem Spiel stehen, verlieren auch die alten Werte ihre Gültigkeit. Gier, Habsucht, und Angst bringen in vielen Menschen deren negative Seiten zum Vorschein. Dass eine Stadt sich ihre Zukunft durch Bestechung erkauft, ist nichts Neues und überrascht nicht besonders. Wie weit ihre Bewohner aber bereit sind, ihre Ethik und ihr Gerechtigkeitsempfinden über Bord zu werfen, damit dürfte Russell nicht gerechnet haben, als er zu seinem selbstzerstörerischen Feldzug aufbricht. Damit erteilt Bis zum bitteren Ende jeder Westernromantik eine gnadenlose Absage, auch wenn es zu Beginn noch ganz nach einer klassischen Westerngeschichte mit Viehtrieb, Lagerfeuern und Schießereien aussieht. Doch die alten Werte haben keine Gültigkeit mehr. Die voranschreitende Industrialisierung hebt ein eingespieltes Miteinander aus den Angeln und produziert Gewinner und Verlierer – und wie es aussieht, gewinnt nur der, der sich selbst verkauft. Dass die Gerechtigkeit in Gestalt eines unerwartet auftretenden Charakters letztendlich doch noch Einzug in Sundance hält, bringt die spannende Geschichte zwar zu einem versöhnlichen Ende, doch die tragischen Schicksale von Russell, Kirby, Miss Collins und auch Bennett hinterlassen einen bleibenden Eindruck.
Perfektes Zusammenspiel
Autor und Zeichner ergänzen sich in Bis zum bitteren Ende perfekt. Kein Wunder, denn Paul Gastine und Jérôme Félix haben im vierbändigen Comic Das Erbe des Teufels bereits erfolgreich zusammengearbeitet. Mit kraftvollen Zeichnungen und einer eindrucksvollen Farbgebung holt Zeichner Gastine die Lesenden bereits mit der ersten Seite hinein in eine dramatische Geschichte, die sich in unsicheren Zeiten zuträgt. Dabei zeigt er nicht nur großes Talent in der Darstellung der Charaktere und einer detailgetreuen Umgebung, sondern auch Feinfühligkeit im Umgang mit der Farbpalette. Während der Anfang der Geschichte noch mit warmen Farbtönen am Tag und tiefen Blautönen in der Nacht gehalten ist, kommen im Verlauf der dramatischen Geschichte vermehrt Grautöne zum Einsatz, die die vorherrschende Stimmung untermalen. Dabei hält die von Félix ohne Umschweife erzählte Geschichte den Spannungsbogen straff und zieht die Lesenden bis zum wortwörtlich „bitteren Ende“ mit sich, wobei die knappen, aber ausdrucksstarken Texte eine bedrückende Realitätsnähe schaffen.
Fazit
Für Western-Fans, die mehr von einer Geschichte erwarten als heldenhafte Protagonisten und Sonnenuntergangsromantik, ist Bis zum bitteren Ende absolut empfehlenswert. Die düstere Geschichte, in der es gerade mal zwei Szenen gibt, die ein Schmunzeln entlocken können,
© Splitter
Veröffentlichung: 24. Februar 2021