Die große Stille (Band 1): Zerrissene Erde

Robert Frost verfasste einst ein Gedicht über zwei Wege, die sich dem lyrischen Ich anbieten. Einer sieht bequem aus, ist leicht zu gehen und führt an ein sicheres Ziel. Der andere ist überwuchert, mehr verwildert als alles andere. Und wohin er führt, ist niemandem bekannt. Wenn man sich durch den heutigen Literaturdschungel kämpft, muss man ebenfalls eine Entscheidung treffen. Möchte ich Altbekanntes? Oder etwas Neues, Abenteuerliches, das meinen Geist fordert und fördert? Droemer Knaur wagte 2018 mit N. K. Jemisin einen Vorstoß auf den interessanteren Pfad und übersetzt den ersten Band einer Trilogie, von der jeder einzelne Teil den Hugo-Award für den besten Roman gewann. Zerrissene Erde spielt in einer von Erdbeben gefährdeten Welt und schafft es spielend leicht, auch die Welt der Lesenden vor Begeisterung beben zu lassen.

    

Die Welt ist untergegangen. Dies passiert nicht zum ersten Mal. Immer wieder wird “Die Stille”, der Kontinent, auf dem Zerrissene Erde spielt, von Naturkatastrophen zu einem Time-Out gezwungen. Diese Zeiten neben Frühling, Sommer, Herbst und Winter werden Fünftzeit genannt. Steinweisheiten helfen den Menschen, in diesen Phasen, in denen die Zivilisation zusammenbricht, zu überleben. Menschen und Orogenen, die von der normalen Bevölkerung verächtlich Rogga (ähnlich schlimm wie das N-Wort für Schwarze) geschimpft werden. Als Essun ihren fast dreijährigen Sohn tot in ihrer Wohnung auffindet, zerbricht ihre Welt. Sie schwört Rache an ihrem Mann, der dafür verantwortlich ist und ihre gemeinsame Tochter entführt hat.

Orogenie – eine besondere Form der Magie

Originaltitel The Fifth Season
Ursprungsland USA
Jahr 2018
Typ Roman
Band 1 /3
Genre Fantasy, Dystopie
Autorin N. K. Jemisin
Verlag Droemer Knaur

Orogene können die Erde beeinflussen. Mit ihrem Willen unterdrücken sie Erdbeben, beeinflussen tektonische Bewegungen und bewahren auch Vulkane vor dem Ausbruch. Doch jede Macht kommt mit einem Preis und so ziehen Orogene die Wärme aus ihrer Umgebung, was gerade bei ungeschulten Orogenen dazu führt, dass ganze Städte oder Landstriche vereisen. Auch das Leben, das dort vorher angesiedelt war. Deshalb wurde das Fulcrum gegründet, in dem Orogene darin ausgebildet werden, Kontrolle über ihre Macht zu erlangen. Doch immer wieder werden begabte (oder verfluchte) Kinder in “normale” Familien geboren. Als Essuns Mann erkennt, dass ihr Sohn diesen Fluch (oder diese Gabe, wie niemand der Orogenen zu glauben wagt) besitzt, erkennt er, warum seine Frau manchmal seltsam ist. Er tötet seinen Sohn, schnappt sich seine Tochter und flieht. Hier setzt die Handlung ein, aber auch eine neue Fünftzeit. Die Beschreibung des Kontinentes und der Auswirkungen der Ursache der Katastrophe werden in bildhafter Sprache beschrieben. Geschmückt wird die Erzählung immer wieder mit Einschüben aus vergangenen Zeitaltern, Geschichten, die oft die Basis der kommenden Handlung bilden.

Drei Perspektiven, drei Stimmen

Bereits auf der ersten Seite des Prologs wird deutlich, was für eine starke Stimme N. K. Jemisin besitzt. Und diese Stärke verliert sie auf keiner Seite ihres Manuskripts. Mithilfe von drei Perspektiven erzählt die Autorin die Geschichte von Damaya, Syenit und Essun. Diese drei Stimmen bieten ihr die Möglichkeit, ihren Weltenbau ganz nebenbei in die Story einfließen zu lassen. Wie funktioniert Orogonie und wie werden Orogene ausgebildet? Durch das Mädchen Damaya, erste ihrer Art in ihrer Familie lernen wir auf schmerzhafte Weise, dass diese verfluchten (aber sind sie das wirklich?) Menschen nur mit harter Kontrolle leben dürfen. Eingeschüchtert von der neuen Welt folgt sie gehorsam. Welches Potential liegt in dieser Macht? Wir folgen Syenit, einer Vierberingten, die nur zu gerne flucht, die mit Alabaster, einem Orogenen mit zehn Ringen (also der höchsten Stufe der Kontrolle) für einen Auftrag in eine Küstenstadt geschickt wird (aber sie soll nicht nur Korallen entfernen, nicht wahr?). Wie können wir uns eine Fünftzeit vorstellen? Blick auf Essun, deren Geschichte die schmerzhafteste ist, die stur ihrem Ziel folgt und kaum auf den Weg nebenan achtet. Alle drei Perspektiven sind im Präsens geschrieben, Essuns besticht sogar noch durch die Anrede des Lesers mit einem “Du”. So hat man noch mehr das Gefühl, alles selbst zu erleben.

Glossar unnötig

Wenn man Zerrissene Erde beginnt, merkt man schnell, dass einem viele Begriffe unbekannt sind. Irgendwie ergeben sie aber doch schnell Sinn. N. K. Jemisin ist geschickt darin, bekannte Wörter zu nehmen, um sie in ihre Welt einzubauen. So liest man seitenlang von den Gems, zu denen sich die Menschen zusammenschließen und merkt irgendwann, dass das Wort einfach ein Kürzel für Gemeinschaft ist. Mentasten ist eine Art mentales Tasten nach den Begebenheiten. Genieure? Ingenieure. Und so weiter und so fort. Fühlt man sich doch einmal verloren, helfen Anhänge am Ende des Buches. Auch wurde eine eigene Art des Fluchens eingeführt. Auf einem tektonisch unsicheren Kontinent, dessen Erdbeben und Vulkanausbrüche als Hass des Erdvaters aufgefasst werden, ist es nicht verwunderlich, dass es Flüche wie “rostverdammte Erde” oder “üble Erde” existieren. Spannend ist auch, dass man in Zerrissene Erde eine Schilderung liest und sich die erzählende Stimme in Nachsätzen, die oft in Klammern stehen, der Sache versichern. Oder mithilfe von ihnen aufgezeigt wird, dass Dinge, die allgemein gültig sind, nicht immer richtig sein müssen.

Science-Fantasy

Man nehme eine gut durchdachte Welt, mixe sie mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte, streue diese immer an ihre Geschichte angepasst ein und platziere ebenso gut durchdachte Charaktere, die sich durch eine Handlung kämpfen müssen, welche voller Überraschungen steckt. Das Ergebnis? Ein Roman von N. K. Jemisin. Diese ungewöhnliche Kombination brachte der Autorin diverse Preise ein. So gewann sie allein für ihre The Broken Earth-Trilogie, deren Auftakt Zerrissene Erde bildet, drei Hugo-Awards. Das macht sie zur ersten Autorin, die diesen Preis dreimal hintereinander gewann. Dieser seit 1953 verliehene Leserpreis ist nach dem Begründer des Begriffs Science-Fiction genannt und wird jedes Jahr im Rahmen der Worldcon verliehen. Auch den Nebula-Award (wird von den Science Fiction and Fantasy Writers of America verliehen) und zwei Locus-Awards (für Fantasy und Science-Fiction vom Fachmagazin Locus vergebener Preis) konnte sie bereits einheimsen. Ihr Name ziert viele weitere Preise, interessant ist auch der “Sense of Gender”-Award, den sie für A Hundred Thousand Kingdoms gewann.

Meinung

Zerrissene Erde konnte mich auf ganzer Linie begeistern. Ich musste nur die erste Seite lesen, um bereits ein Tor in meinem Geist geöffnet zu bekommen. Dieser Erzählstil fällt direkt mit der Tür ins Haus und schreit: “Ich bin anders. Ich bin besonders!”. Und ich liebe es. Die Figuren sind so gut eingeführt, wie ich es schon lange nicht mehr lesen durfte. Die Handlung unterwirft sich keinen gängigen Konventionen und die Art, wie die Autorin Informationen einbaut, lässt mich immer wieder begeistert grinsen. Ich kann es kaum erwarten, die kommenden Bände zu lesen und würde mich jetzt am liebsten mit all ihren Werken eindecken. Wahrscheinlich mach ich das auch nach und nach. Be prepared!

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MadameMelli

MadameMelli ist im Berufsalltag als Informationsninja unterwegs und hilft Suchenden, die passende Literatur zu finden. In ihrem Freundeskreis ist sie als Waschbär bekannt und dementsprechend ist auch kaum ein Buch, Manga oder Comic (oder Tee) vor ihr sicher – alles wird in die Hand genommen, begutachtet und bei Gefallen mit nach Hause geschleppt. Nur nicht gewaschen, das wäre zu viel des Guten. Sinniert gerade darüber, ob es als Waschbär sehr gefährlich ist, Wölfe zu lieben, lässt sich davon aber nicht abhalten und schreibt in ihrer Freizeit selbst Geschichten. Manchmal auch über Wölfe. Oder Tee.

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