Sein Reich

Und immer passiert’s im Sommer: Junge muss Ferien auf dem Land verbringen, Junge trifft dort auf Mädchen, Junge mag Mädchen – und dann befindet er sich auch schon mitten im Reichsbürgerprojekt seines Vaters. So kann’s gehen. Mit seinem Jugendbuch Sein Reich liefert Martin Schäuble einen Beitrag zum Umgang mit der Reichsbürgerbewegung, indem er einen unbescholtenen 15-Jährigen auf eine ihm völlig fremde Ideologie treffen lässt.

Der 15-jährige Juri lebt mit seiner Mutter und ihrem neuen Lebensgefährten Hauke in Stuttgart. Hauke ist ein hoffnungsloser Säufer, aber immerhin kein Schläger. Finanziell ist es um die kleine Familie nicht ganz so gut bestellt, deswegen steht in den Sommerferien kein großer Urlaub an. Noch dazu hat Juris Freundin Diesel-Nora mit ihm Schluss gemacht und mit Hauke versteht er sich auch nicht sonderlich, also beschließt Juri seinen Vater im Schwarzwald zu besuchen. Diesen hat er das letzte Mal vor zehn Jahren gesehen. Sein Vater war nie sonderlich gut in seiner Rolle, trotzdem nimmt er Juri bei sich auf. Zunächst gefällt Juri die Zeit bei seinem Vater und dessen Freunden: Es wird geangelt, mit Pfeil und Bogen geschossen, gebaut, gebastelt und sogar an einem geheimen Projekt im Wald gearbeitet. Und auch eine neue Liebe lernt Juri kennen. Doch nach und nach verdichten sich beunruhigende Anzeichen dafür, dass Juris Vater und seine Kumpels mehr als nur harmlose Spinner sind.

Die Reichsbürgerbewegung

Originaltitel Sein Reich
Ursprungsland Deutschland
Jahr 2020
Typ Roman
Bände 1
Genre Jugendbuch
Autor Martin Schäuble
Verlag Fischer KJB
Seit dem 6. März 2020 im Handel erhältlich

Reichsbürger – für sie ist die Bundesrepublik illegitim und allein das Deutsche Reich rechtsgültig, da die Weimarer Reichsverfassung von 1919 niemals abgeschafft wurde. Die Bundesrepublik dagegen ist nur eine GmbH, die Bürger sind Personalangestellte und die Bundeskanzlerin eine Geschäftsführerin. Man kann jederzeit aus der GmbH austreten, und das tun die Reichsbürger mit den ihnen eigenen Mitteln: Sie statten sich mit eigenen Ausweispapieren aus, mit eigenen Autokennzeichen und gründen Scheinstaaten. Neben der Ablehnung der Bundesrepublik vereinen einige Reichsbürger auch die Leugnung des Holocausts, den Zweifel an der Mondlandung, den Glauben an Reptiloide, Chemtrails und die Flach- bzw. Hohlerde. Das trifft nicht auf jeden Reichsbürger zu, da die Szene nicht wirklich homogen ist, und diese Verschwörungstheorien sind auch alle sehr unterschiedlich, trotzdem liegt ihnen allen ein gemeinsamer Kern zugrunde: Mächtige Zirkel („Die da oben“) gaukeln uns ein falsches Weltbild vor, mit dem sie uns zu Ahnungslosigkeit und Gehorsam erziehen. Auch der Vater von Juri vertritt diese Annahme.

Ein Sommer im Dorf

Als Juri ins Dorf kommt, ist er zunächst einmal null angetan von der Einöde um ihn herum, findet aber schnell Anschluss in Form einer Dorfclique bestehend aus dem Busmädchen Jessy, ihrer schnuckeligen großen Schwester Jule, dem Wartburg-fahrenden Aschenbecher, dem Zocker Mehmet und noch ein paar weiteren Nasen, die sich gerne am See treffen, Mucke hören, Selfies posten, herumknutschen und auch sonst ziemlich normales Zeug machen. Der Clique gegenüber steht Juris Vater. Er ist eher der schweigsame Typ und will Juri auch nicht wirklich gefallen, kann seinen Sohn aber mit Modellbau und Angeln für sich gewinnen und lässt ihn sogar Auto fahren. Das findet Juri erst einmal megamäßig dufte, doch mit Juris Vater treten auch dessen Kumpels in Juris Leben.

Von Nazis, Preppern und Verschwörungstheoretikern

Da wäre zum Beispiel Karl, der dorfeigene Automechaniker, der bei der Dorfclique als Nazi verschrien ist und dessen Sohn Jens im Knast sitzt, und der Aussteiger Achim, der mit seiner Familie abgeschottet auf einem Gutshof im Wald lebt und eine reaktionäre Familienpolitik betreibt. Die Mädels werden zur permanenten Hausarbeit verdonnert, während die Jungs Holz hacken und sich danach auf die faule Haut lümmeln. Strickte Geschlechtertrennung, vor allem wenn Besuch kommt. Keine Handys, kein Fernseher, keine Elektronik. Dafür Schießen mit Pfeil und Bogen. Und Unterricht? Den kriegen sie von der Mutter Hanna. Achim selbst ist ein Prepper, eine Person, die Nahrungsvorräte, Werkzeuge, Medizin und Waffen bunkert für den kommenden Katastrophenfall. Achim erwartet das Ende der bestehenden Staatsordnung – oder wollen er, Karl und Juris Vater dieses Ende sogar selbst herbeiführen?

Juris Sicht

Juri nimmt die Andersartigkeit seines Vaters und dessen Kumpels zwar wahr, ignoriert sie aber zunächst. Denn wenn Juri nachfragt, bekommt er Antworten, die er nicht wirklich versteht und die der Stimmung zwischen ihm und seinem Vater eher zusetzen, so dass er es erst einmal bleiben lässt, weil er doch eigentlich nur einen hübschen Sommer erleben will. Doch irgendwann kommt Juri nicht mehr umhin sich über diese „Bahnhofssekte“ Gedanken zu machen und entlarvt den Irrsinn der Theorien, indem er sie zum Beispiel mit dem Fantasy-Gebilde Game of Thrones vergleicht. Es mangelt Sein Reich nicht an freshen Popkulturreferenzen, mit deren Hilfe sich Juri die Welt erfahrbar macht (Fortnite, Dark, Doom, Capital Bra etc.). Und auch nicht an knappen, jugendlich-einfachen, aber treffenden Einschätzungen. Wir erleben ein wichtiges und gefährliches Thema aus der Sicht eines Jungen ohne didaktischen und erklärenden Fingerzeig und spüren, dass etwas falsch läuft – spätestens dann, wenn sich die Geschichte dem „Tag X“ nähert.

Fazit

Sein Reich ist eine Geschichte über eine aktuelle problematische Bewegung und in Zeiten von Fake-News und (Rechts-)Populismus ein wichtiges Jugendbuch. Obwohl es sich mit einem doch relativ schwerem Thema befasst, liest sich die Geschichte locker flockig weg – eben weil es aus der freshen Sicht eines 15-Jährigen geschieht, der eigentlich nur zufällig in das wahnwitzige Projekt seines Vaters hineingeraten ist und insgeheim ganz andere Dinge im Kopf hat. Die Freshness wird erzeugt durch die Wortwahl des Autors und ganz angetan bin ich ja davon, dass Schäuble den Teen-Umgangsslang mit „weil“ übernommen hat, und das nicht zu selten: „Weil, ähnlich sehen die sich überhaupt nicht“ oder „Frage ich aber alles nicht, weil, über Nora will ich ja auch nicht reden.“ Kurz eingeschobene Randbemerkung: Ich war gestern in Halle, dieser scheinbaren „Hochburg“ der Identitären, und hab auf der Fahrt dorthin Sein Reich gelesen. Vielleicht nicht das sicherste Umfeld, um sich mit Reichsbürgern zu beschäftigen, und trotzdem hab ich in der Buchhandlung dort einen fetten prominenten Stapel von frisch eingetroffenen Sein Reich-Ausgaben gesehen. Auf die Buchhandlungen ist doch immer wieder Verlass, huh? Also, zurück zum Fazit: Als Jugendbuch ist Sein Reich eine ganz klare Empfehlung.

© Fischer KJB

Totman Gehend

Totman ist Musiker, zockt in der Freizeit bevorzugt Indie-Games, Taktik-Shooter oder ganz was anderes und sammelt schöne Bücher. Größtes Laster: Red Bull. Lieblingsplatz im Netz: der 24/7 Music-Stream von Cryo Chamber auf YouTube.

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