Inu-Oh

Eine Anime-Rockoper, die im Japan des 14. Jahrhunderts spielt, in einer Zeit, in der das Nō-Theater mit seinen strengen Regeln und beherrschten Präsentationen vorherrschte? Da hat sich Regisseur Yuasa Masaaki (Lu Over the Wall) einiges vorgenommen, als er das Setting des japanischen Geschichtsepos Heike Monogatari: Inu-Oh no Maki gewählt hat, in dem der Kampf zwischen den Heike und den Genji um die Vorherrschaft beschrieben wird. In diesen Rahmen setzt er ein seltsames Duo, das die musikalische Landschaft der damalige Zeit ordentlich zu erschüttern vermag. Wie der Kontrast zwischen Tradition und Moderne, Altbekanntem und Neuem funktionieren kann, zeigt Masaaki in Inu-Oh, einem Werk, welches Grenzen sprengt und Konventionen über Bord wirft, um trotz des Jahrhunderte entfernten Settings eine Aktualität aufzuzeigen, die die Geschichte für das Publikum des 21. Jahrhunderts nachvollziehbar macht. In Japan begeistert die ungewöhnliche Produktion seit dem 28. Mai 2022 die Kinobesucher*innen. Für das deutsche Publikum hat sich Rapid Eye Movies die Lizenz gesichert und Inu-Oh am 17. November 2022 in die deutschen Kinos gebracht – und zwar in original japanischer Synchronisation mit deutschen Untertiteln!

   

Auf der Suche nach einem legendären Schwert, bei der sein Vater ums Leben kommt, verliert der Fischerjunge Tomona sein Augenlicht. Der Geist seines Vaters fordert ihn auf, Rechenschaft zu suchen, und so wandert der Blinde in der Welt umher, bis er von blinden Biwa-Mönchen aufgenommen wird. Von diesen lernt er, die Biwa zu spielen, ein Saiteninstrument. Da er sich nun Tomoichi nennt, findet der Geist seines Vaters ihn nicht mehr, so dass er unbehelligt auf Wanderschaft gehen und den Menschen die alten Geschchten erzählen kann. Auf dieser Wanderschaft stößt Tomoichi auf Inu-Oh (König der Hunde), den missgestalteten Sohn eines Nohspielers, der bei den Hunden lebt und sein Gesicht hinter einer Kürbismaske verbirgt. Inu-Oh liebt den Tanz, doch da er nicht vor Publikum auftreten darf, schließt er sich Tomoichi an und beide wandern gemeinsam durch das Land. Dabei stellen sie fest, dass die Musik einen Einfluss auf Inu-Ohs Missgestalt hat, und erzählen neue Geschichten, um ihn in einen normalen Menschen zu verwandeln. Aber während die einfachen Menschen die neuartigen Darbietungen begeistert feiern, stoßen sie bei der Obrigkeit nicht auf Gegenliebe.

Der sehende Blinde und der verkrüppelte Schöne

Originaltitel Inu-Oh
Jahr 2022
Genre Fantasy
Regie Yuasa Masaaki
Studio Science SARU
Laufzeit 98 Minuten
Kinostart: 17. November 2022

Als blinder Biwaspieler zieht Tomona/Tomoichi durch die Lande. Auch wenn er seine Umgebung nicht sehen kann, so kann er die Geister seines Vaters und der im Heike-Krieg gefallenen Soldaten wahrnehmen und ihre Stimmen hören. Von den Soldaten erfährt er so manches, was der Öffentlichkeit nicht bekannt ist, und das aus gutem Grund. In Folge seiner Blindheit schreckt er nicht vor Inu-Oh zurück, der mit seinen verzerrten Gliedmaßen einen scheußlichen Anblick bietet und sein verunstaltetes Gesicht, in dem sich scheinbar nichts in der richtigen Anzahl am richtigen Platz befindet, hinter einer Kürbismaske verbirgt. Inu-Oh mag unansehlich sein, doch sein Tanz ist ausdrucksvoll und wahrhaftig. Als das Duo die unerzählten Geschichten der gefallenen Soldaten unters Volk bringt, beginnen beide, sich zu verändern. Tomoichi, der sich nun Tomoaru nennt, löst sich von den überlieferten Texten und Melodien und spielt eine Musik, die die Wirklichkeit abzeichnet, während Inu-Oh durch die tänzerische Darstellung der Geschichten immer mehr von seinen angeborenen Defekten verliert und seine schöne Gestalt erlangt, die ihm als Ungeborenes von einer dämonischen Maske geraubt worden war.

Von Freiheit, Selbstbestimmung und Wahrheit

Ein frischer Wind weht durch die traditionsreiche, verstaubt anmutende Kulturlandschaft des 14. Jahrhunderts. Mit ihren Auftritten begeistern Tomoaru und Inu-Oh ihr Publikum, welches aus einfachen Menschen besteht. Die Musik, die Geschichten und der darstellerische Tanz besitzen allesamt einen neuen, freien Charakter, der die Menschen mitreißt. Statt in schweren Kostümen und mit dickem Makeup, welches das Gesicht verbirgt, tritt Tomoaru mit freiem Oberkörper und stylischen Hosen auf, benutzt Schminke, um seine Vorzüge herauszustellen und trägt statt der Glatze, die einem Biwa-Priester vorgeschrieben ist, sein Haar lang und ungebunden. Damit schafft er eine Identifikationsfigur, die greifbar ist und ebenso greifbare Geschichten erzählt, die nicht schön, aber dafür wahr sind und selten gut enden, so wie das Leben selbst. Diese Geschichten erhalten durch die ungewöhnliche Art, die Biwa wie eine elektrische Gitarre zu spielen und Trommeln den Rhythmus vorgeben zu lassen, zu dem wild getanzt werden kann, eine Lebendigkeit, die das traditionelle Nō-Theater vermissen lässt. Auch Inu-Oh lässt die vorgeschriebenen Schritte hinter sich und passt seine Bewegungen der musikalischen Vorlage an. Beide sind frei von gesellschaftlichen Vorgaben und Zwängen, zumindest für eine kurze Zeit. Denn an der Wahrheit ist das Shogunat nicht interessiert.

Die Geschichten in der Geschichte

Am besten lässt Inu-Oh sich wohl mit einer wilden Achterbahnfahrt vergleichen. Ruhige Erzählelemente wechseln ebenso schnell das Tempo wie die malerische, an Stilleben erinnernde Kulisse sich in einen Wirbelwind aus Farben und Formen verwandelt. Dazu passend ist die Musik mal weich und besinnlich, dann wieder aufputschend und mitreißend. Nie aber lässt der Film dem Publikum die Möglichkeit auszusteigen, immer wieder werden Weichen umgestellt und es passiert etwas Neues, Abenteuerliches, Magisches oder Böses. Inu-Ohs Verwandlung scheint dabei im Vordergrund zu stehen, doch besteht die Geschichte aus mehreren ineinander verwobenen Strängen. Auch Tomona verwandelt sich, mit jedem Namen, den er annimmt, nimmt seine Entwicklung einen neuen Weg, bis er letztendlich bei sich selbst angekommen ist. “Eintracht erfordert Ordnung”, unter diesem Gesichtspunkt regiert der Shogun, und zu dieser Ordnung gehört für ihn auch die von ihm vorgegebene Historie des letzten Krieges. Diese Ordnung sieht er von Tomona und Inu-Oh empfindlich gestört. Dann ist da noch der Vaters von Inu-Oh, der aus Geltungssucht einen Pakt mit einer dämonischen Maske eingeht und nicht nur sein ungeborenes Kind opfert, um im Rampenlicht zu stehen.

Ungewohntes für die Ohren

Als Rockoper steht und fällt Inu-Oh mit der Musik. Komponist Otomo Yoshihide ist das Kunststück gelungen, traditionelle japanische Musik mit modernen Rockklängen zu vermischen und daraus eine Klangfülle zu schaffen, die streckenweise recht ungewohnt, aber auch ansprechend wirkt, zumal sich neben bekannten Rocksequenzen auch opernhafte Elemente und Hip Hop heraushören lassen. Und wer gegen Ende meint, Bohemian Rhapsody von Queen wiederzuerkennen – der liegt richtig. Aber auch die Stimmen von Inu-Oh und Tomona tragen viel zum Gesamteindruck bei. Während Tomona vom Tänzer und Schauspieler Mirai Moriyama (Jesus in Saint Oniisan) gesprochen wird, verleiht Avu-chan, Sängerin der bekannten Band Queen Bee, Inu-Oh mit ihrer wunderbaren Stimme Lebendigkeit, Ausdruck und vor allem eine Persönlichkeit, denn durch die Maske, die Inu-Oh bis zum Ende des Animefilms trägt, bleibt seine Mimik verborgen, so dass Stimme und Bewegungen ausreichen müssen, um ihn den Zuschauenden nahezubringen.

Fazit

Inu-Oh ist ein Animationsfilm, der, obwohl er im Japan des 14. Jahrhunderts spielt, das Gefühl weckt, eine moderne Geschichte zu erleben. Die Suche nach der eigenen Identität, das Ausbrechen aus vorgeschriebenen Rollen und gesellschaftliche Grenzen sind auch heute noch ein ernstes Thema. In Inu-Oh wird dieser Ernst allerdings durch humoristische Einlagen gemildert. Wenn zum Beispiel Tomoaru in extravagantem Outfit mit seinen Bandmitgliedern auftritt, dann erinnert das unweigerlich an Rockkonzerte großer Stars, die vor ihren Fans alles geben und frenetisch bejubelt werden, und erhält gleichzeitig durch die Art, wie die damaligen Musikinstrumente verwendet werden, einen erheiternden Charakter. Für alle, die Spaß an geschichtsträchtigen Szenarien, Absurditäten und Musik haben, ist diese Anime-Rockoper ein Muss.

© Rapid Eye Movies

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