Erased – Die Stadt, in der es mich nicht gibt

Der Tod eines geliebten Menschen markiert in der Filmhistorie zu 99% die Geburtsstunde einer großen Geschichte. Auch Erased – Die Stadt, in der es mich nicht gibt hält an dieser Tradition fest, nur dass der Protagonist in diesem Fall nicht rachsüchtig nach vorne prescht, sondern – ganz im Gegenteil – den Rückwärtsgang einlegt, um eben jenen Tod zu verhindern. Lehnen Sie sich zurück in Ihrem DeLorean DMC-12 und schnallen Sie sich an, es geht (wieder mal) nach Japan, dem Land der feinen Animationskunst.

  

Satoru Fujinoma ist ein strauchelnder Mangaka in seinen Endzwanzigern, dem der Durchbruch bislang verwehrt geblieben ist. Stattdessen muss er sich als Pizzalieferant über Wasser halten. Dabei verfügt Satoru über eine einzigartige Gabe: ereignet sich in seiner Nähe ein tragisches Unglück, wird er in die Vergangenheit zurück geschickt, um herauszufinden, wer in Gefahr ist und wie er denjenigen retten kann. Allerdings besitzt er keine Kontrolle über diese Fähigkeit und auch sonst ist er wenig angetan davon, denn sie zwingt ihn sich einzumischen, und das ist ihm verhasst. Als er er eines Abends seine Mutter ermordet in seiner Wohnung auffindet und er selbst als Hauptverdächtiger gilt, katapultiert es ihn ganze 18 Jahre zurück und er sieht sich im Körper eines 10-Jährigen mit der Aufgabe konfrontiert, eine Kindermord-Serie aufzudecken und den Missing Link zum Tod seiner Mutter herzustellen.

Die Genres tummeln sich

Die Pilotfolge von Erased – Die Stadt, in der es mich nicht gibt, im Folgenden nur noch Erased genannt, beginnt als ein waschechter Seinen: Wir haben einen ernüchterten 29-Jährigen, der elegisch am Ufer eines Flusses steht und über seine biographische Talfahrt sinniert. In kurzen und klaren Monologen spricht er Gefühle an, die dem einen oder anderen sicherlich nicht fremd sind. Satorus Momente der Selbstreflexion werden dabei untermalt von einem Score so mutlos und diffus, dass es ein Leichtes ist für die Stimmung, sich auf den Zuseher zu übertragen. Ehe der Depri-Einstieg aber zu depri werden kann, wird das fantastische Element etabliert: Satoru erklärt und demonstriert seine Fähigkeit, „Reruns“ durchzuführen, die besagten Sprünge in die Vergangenheit, die immer dann einsetzen, wenn eine unbekannte Kraft ihn dazu anhält, etwas Schlimmes zu verhindern. Ist die Kür getan und das Plot Device vorgestellt, folgt im letzten Drittel der Pilotfolge eine missglückte Kindesentführung und schließlich der Mord an Satorus Mutter. Erased fährt also gleich zu Beginn alle Geschütze aus und präsentiert einen ungewöhnlichen Mix an Genres, Stimmungen und Figuren. Auf diese Weise wirkt die Serie frisch und unverbraucht und entfaltet einen ganz speziellen Sog.

Im Verlauf der folgenden elf Episoden bekommt Erased den Balance-Akt zwischen den Genres ziemlich gut hin, zum Schluss hin ist aber klar, dass das Drama im Vordergrund steht. Denn ungeachtet der ungewöhnlichen Prämisse, bleibt die Story geerdet. Die Charaktere wirken bodenständig und werden mit emotionalen und psychologischen Details zum Leben erweckt, sodass das Einfühlen leicht fällt. Da spielt auch das recht unique wirkende Charakter-Design von Keigo Saski (Blue Exorcist) mit rein. Die Figuren erscheinen realistisch, nicht unbedingt geleckt schön, dafür aber lebendig, abseits der Schablone. Die emotionalen Ausdrücke passen, somit gibt es auch keinerlei Probleme in den Schlüsselmomenten. Aus diesem Grunde funktioniert die Serie auch als Mystery-Thriller sehr gut. Zwar dürfte sich für die ganz Gewieften unter den Zuschauern die Frage nach dem „Whodunnit?“ schnell erledigt haben, dennoch hält die Serie ein konstant hohes Spannungslevel. Denn den Figuren, für die man so schnell Sympathien entwickelt hat, hockt ein perfider und charismatischer Peiniger im Nacken – für sie geht es um echte Gefahr und echte Einsätze, und das macht es packend.

Zeitstrahl oder Filmspur?

Originaltitel Boku dake ga inai machi
Jahr 2016
Episoden 12 (in 1 Staffel)
Genre Mystery, Drama
Regisseur Itou Tomohiko
Studio A-1 Pictures

Erased bedient sich der Zeitreiseform des Time Loops. Das heißt, die betreffende Person wiederholt einen bereits erlebten Zeitabschnitt ihres Lebens mit dem Körper von damals aber dem geistigen Zustand von heute. Somit kann der Zeitreisende sich nicht selbst begegnen. Damit vermeidet Erased schon mal eines von vielen möglichen Paradoxa.
Darüber hinaus bleibt der Zeitstrahl, in dem sich die Person bewegt, stets derselbe. Durch Veränderungen der Geschichte entstehen keine Paralellwelten oder sonstige gehirnakrobatische Abstrusitäten. Erased macht es sich also einfach und entgeht auf diese Weise den größten Mindfuck-Problemen, die Time-Travel-Stories so mit sich bringen. Das ist allerdings nicht als Kritik zu verstehen, denn Erased hat gar nicht den Anspruch, sich allzu sehr auf die Prinzipien des Zeitreisens zu berufen oder sich gar philosophisch und wissenschaftlich damit auseinander zu setzen. Das Zeitreiseelement fungiert hier lediglich als Plot Device und ordnet sich dem Drama unter. Somit kann die Serie mit „Was wäre wenn“-Situationen arbeiten und die geneigten Seinen-Fans emotional triggern (vor allem jene aus der Generation Y).

Stellt sich auch die Frage, ob man bei Erased wirklich von Zeitreisen sprechen kann, denn es scheint vielmehr so, als wäre das Zeitreisen nur ein Teil der übergeordneten Film-Metaphorik, die die Serie transportiert. „Zeitreisen“ bedeutet bei Erased „vor- und zurückspulen“, denn die Serie versteht das Leben einer Person als Film. Der Film dient als große Metapher, die sich visuell überall niederschlägt. Satorus Leben wird als ein Sammelsurium von Filmstreifen dargestellt, die sich um ein helles Zentrum drehen, gleich einer Galaxie. Die Filmstreifen können vor- und zurückgespult werden. Sie können aber auch zerreißen. Aus diesem Grunde sind die Szenen aus Satorus Vergangenheit auch mit schwarzen Balken versehen. Zum Einen führt das die Filmmetapher fort, zum Anderen verleiht diese Änderung im Bildformat der Serie eine einzigartige Optik, die von manchem Zuseher vielleicht gar nicht bewusst wahrgenommen wird. Zu diesem filmischen Seitenverhältnis kommen noch etliche andere cinematographisch anmutende Kniffe dazu. Sei es in der Belichtung, in der Inszenierung oder in den irgendwie nostalgisch wirkenden Kamerawinkeln. Die Serien-Vergangenheit bildet damit einen starken Kontrast zur Serien-Gegenwart (die als hübscher Standard-Anime durchgehen könnte). In Sachen Inszenierung hebt sich Erased also eindeutig ab vom Rest des großen Anime-Aufgebots.

Eine kleine Abhandlung über das Ende

Nachdem der Mörder sich Satoru offenbart hat, lässt er (der Mörder) ihn (Satoru) ertrinken und schickt ihn damit in ein 15 Jahre währendes Koma. Als Satoru wieder erwacht, geht alles recht schnell über die Bühne: kurz mal Reha, kurz ein dramatisches Stelldichein auf dem Dach mit dem Mörder und die Katze ist im Sack. Kurz: am Ende scheiden sich die Geister. Wenn man sich das aber genauer betrachtet, ist der Kniff mit dem Koma gar nicht mal so schlecht. Der Zuseher landet auf diese Weise – und ohne irgendwelche Strecken zu erleben – wieder in der Gegenwart (was befriedigend ist, da es die Ausgangszeit ist). Überdies bleibt der Täter die ganze Zeit über auf freiem Fuß, was wiederum einen Thrill-Faktor erzeugt. Narrativ ist das Ganze also recht spannend, da Satoru stellvertretend für den Zuseher keinen Dunst hat, was in den letzten 15 Jahren passiert ist. Daraus ergeben sich Möglichkeiten für Überraschungen. Weiterhin erhält durch Satorus Koma der Titel „Die Stadt, in der es mich nicht gibt“ eine weitere Bedeutungsebene. Zum Einen spielt der Titel auf Hinazuki und ihr Essay an (freilich auch auf Hinazukis Tod, durch den sie erst recht der Stadt fern bleibt). Zum Zweiten auf Yashiro: In der finalen Zeitlinie verlässt er die Stadt und gestattet es Satoru, dass diejenigen, die er liebt, sorgenfrei und glücklich aufwachsen können. Der Preis, den Satoru dafür zahlt, ist das Koma, das auch ihn aus dem Bild der Stadt tilgt. Er ist also die dritte Figur, auf die sich der Titel anwenden lässt. Wenn sich Symbole oder Schlüsselwörter innerhalb einer Serie auf mehrfache Art und Weise deuten lassen, ist das immer eine schicke Sache und erweckt den Eindruck von engagierten Machern, die ein bisschen nachdenken. Das Koma hat erzählerisch also durchaus seinen Reiz. Was dagegen überzogen und fehl am Platze wirkt, ist die rasante (und zudem unrealistische) Plot-Abwicklung in den letzten beiden Folgen und der theatralische Showdown auf dem Dach samt Rollstuhl und Sprungkissen. Aufgrund der begrenzten Anzahl von 12 Episoden hatte das Studio vermutlich keine Möglichkeit, den wesentlich besser gestalteten Schluss-Arc aus dem Manga zu übernehmen.

Erased ist ‘ne seltsame Kiste. Die Serie fühlt sich so gut wie nie nach Anime an. Und das ist in diesem Falle positiv zu verstehen. Im Hintergrund wabert immer so ein bisschen etwas von In meinem Himmel mit (obgleich die fantastische Komponente eine andere ist). Sowohl dort als auch bei Erased drückt die Präsenz eines Sexualstraftäters und Kindermörders ordentlich auf die Stimmung und erzeugt eine bestimmte Art von grausamem Flair, das ich so nicht gewohnt bin von Anime. Deshalb halte ich Erased für herausragend.
Ein paar Kritikpunkte im Plot (Stichwort Schoko-Scheidung und Oma-aus’m-Nichts) gibt es zwar und dazu das leicht verkrüppelte Ende (leider, leider), aber alles in Einem zählt Erased für mich zu DEN Serien der letzten Jahre. Beim erstmaligen Schauen brauchte es nur wenige Minuten und Erased schaffte das, was im Leben eines Konsumenten vermutlich nur einer Handvoll Medientitel vorbehalten bleibt: es löste Resonanz aus.

Zweite Meinung:

Erased – Die Stadt, in der es mich nicht gibt entpuppte sich ganz nach einem Anime für mich. Was einerseits an den Zeitloops und andererseits an der spannenden Handlung liegt. Schon ein ähnlicher Vertreter wie Steins;Gate konnte mich mit seiner packenden Zeitreise-Thematik begeistern und da ist es nicht verwunderlich, wenn Erased auch meinen Geschmack trifft. Allerdings kommt hier Erased nicht ganz an Steins;Gate heran, was auch der Länge geschuldet ist. Hier finde ich die Charaktere um einiges schwächer, so kann ich bis auf Kayo niemand weiteren zu meinen Lieblingscharakteren zählen. Doch besonders Probleme habe ich mit den letzten zwei Folgen der Serie, die so gar nicht meinen Erwartungen entsprechen. Hier hätte ich mir ein anderes Ende gewünscht und so bin ich generell mit der Auflösung des Ganzen nicht zufrieden. Insgesamt betrachtet handelt es sich um einen guten Anime, der gegen Ende schwächer wird. Was sich verkraften lässt, wenn man die Anfänge tadellos findet. Ansonsten kein typischer Otaku-Anime und daher durchaus als positiv anzusehen, weil er doch zu den besseren Produktionen der letzten Jahre gehört.

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Totman Gehend

Totman ist Musiker, zockt in der Freizeit bevorzugt Indie-Games, Taktik-Shooter oder ganz was anderes und sammelt schöne Bücher. Größtes Laster: Red Bull. Lieblingsplatz im Netz: der 24/7 Music-Stream von Cryo Chamber auf YouTube.

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