Die Schatzinsel
Animes, die auf Weltklassikern der Literatur basieren, feierten zwischen den 1960ern und 1980ern ihre Hochzeit. In dieser Epoche entstand auch Takarajima, welches hierzulande unter dem Titel Die Schatzinsel entstand und Kindern ab Mitte der 90er im Rahmen von Vampy auf RTL2 den Stoff von Robert Louis Stevenson näher brachte. In der Masse zahlreicher Animeserien werden sich viele sicherlich kaum noch an die visuell wenig herausstechende Serie erinnern. Doch spätestens der Opening Song “Gold und Ruhm” lässt es wieder in den Ohren klingeln. KSM Anime veröffentlichte die Serie erstmals 2009 auf DVD, ehe es Ende 2017 zu einem Re-Release kam.
Der 13-jährige Jim Hawkins ist Halbwaise und lebt mit seiner Mutter zusammen. Diese betreibt an der englischen Küste die Gaststätte “Admiral Benbow”. Eines Tages taucht ein mysteriöser Pirat names Captain Billy im Gasthaus auf. In seiner Seemannskiste trägt er ein besonderes Geheimnis herum, hinter dem eine ganze Piratenhorde her ist. Jim beginnt, dem notorischen Trinker nachzuspionieren, wird aber dabei von Captain Billy erwischt. Dieser bittet ihn daraufhin, nach einem „Einbeinigen“ Ausschau zu halten und ihn zu warnen, wenn dieser auftaucht. Kurz bevor der arme Billy an den Folgen seines Alkoholgenusses stirbt, vertraut er Jim aber sein großes Geheimnis an: Die legendäre Schatzkarte des Captain Flint, der auf einer einsamen Insel einen sagenhaften Schatz versteckt haben soll. Kaum von Jim und dessen Mutter über die Vorkomnisse informiert, stellt die Regierung schickt sofort ein Schiff, die “Hispaniola” samt Crew in die Gegend. Jim will sich dieses Abenteuer nicht entgehen lassen und schleicht sich mit seinem Tigerjungen Bembo unbemerkt an Bord. Das größte Abenteuer seines Lebens kann nun beginnen! Auf dem Schiff schließt Jim schnell Freundschaft mit dem Arzt Dr. Livesey, dem Kaufmann Trelawny – und dem einbeinigen Schiffskoch John Silver, der sich zunächst rührend um Jim kümmert. Doch je näher das Schiff der geheimnisvollen Insel kommt, desto unheimlicher werden auch die Ereignisse auf der „Hispaniola“.
Erst geradlinig und überschaubar, doch dann erstaunlich wendungsreich
Originaltitel | Takarajima |
Jahr | 1978 |
Episoden | 26 (1 Staffel) |
Genre | Abenteuer |
Regisseur | Osamu Dezaki |
Studio | TMS Entertainment |
Zunächst geht das Erzähltempo eher gemächlich vonstatten. Es dauert zehn Folgen, bis die titulare Schatzinsel überhaupt erst in Sichtweite rückt. Bis dahin nimmt sich Die Schatzinsel viel Zeit für die Besatzung des Hispaniola, denn zu einem späteren Zeitpunkt werden sich Charakterdramen abspielen, die zu Beginn kaum vorstellbar sind. Ausschlaggebend dafür sind die Geschehnisse an Bord, die klein anfangen und schließlich dafür sorgen, dass einstige Freundschaften brechen und sich neue Dynamiken bilden. Hier zieht die Geschichte unerwartet viele Register, denn der Plot erweist sich als intrigenreich und wendungsfreudig erzählt. Der Zuschauer bleibt dabei immer in der Perspektive von Jim und weiß nie mehr als der Junge. Er wird Zeuge von dessen Reifeprozess, denn Jim startet naiv in das Abenteuer und muss sich immer wieder an neue Bedingungen anpassen. Dabei verliert er selten seine jugendliche Naivität: Er wünscht sich nichts mehr, als seine Mutter stolz zu machen und den Schatz mit nach Hause zu bringen. Während Jims Mutterliebe immer wieder Motiv wird, entwickelt sich auf der anderen Seite eine tiefe Verehrung gegenüber Silver, der Jim Freund und Vaterfigur zugleich ist. Es mag stellenweise befremdlich wirken, wenn Jim sich zum Kartoffelnschälen extra an das Bett das kranken Silver setzt, nur um diesem nahe sein zu dürfen.
Vorlagentreue und Abweichungen
Nahezu akribisch folgt die Animeserie von TMS Entertainment (Akira, Lady Oscar) ihrer gedruckten Vorlage Die Schatzinsel. Dabei wird die Detailtreue besonders groß geschrieben, obwohl es vor allem zu Beginn der ersten Hälfte immer wieder zu inhaltlichen Exkursionen kommt. So bewegt sich Episode 8 eher im Horror-Genre und ist in ihrer Form nicht im Buch zu finden. In der darauf folgenden Episode (“Sklavenhandel”) kommt es zu einem Piratengefecht, welches ebenfalls neu hinzugedichtet wurde. Darüber hinaus folgt die Handlung des Animes relativ geradlinig dem Roman. Nur zum Ende hin gibt es einen Zielgruppen gerechten Kniff, um die Existenzberechtigung des 13-jährigen Jim nicht in Frage zu stellen:
Schraffuren und Speedlines
Rein optisch kann die Serie weder ihr Alter noch ihr Budget verbergen: Kaum eine Actionszene wurde animiert. In den meisten Szenen lebt die Serie von Standbildern, die von Speedlines unterstützt werden. Gelegentlich kommt es auch zu einem verwackelten Bild, doch in der Regel passiert bewegungstechnisch sehr wenig auf dem Bildschirm. Dafür punkten diverse (bereits im Opening gezeigten) Hintergrundbilder, die stellenweise sogar aufwändig produziert wurden. Auch positiv fallen die Figuren von nahem auf, wobei besonders ins Auge sticht, dass häufig mit Schraffuren gearbeitet wurde, was besonders Silvers Attraktivität zugute kommt. Mit seinen langen Wimpern und den großen leuchtenden Augen wirkt er vertrauenswürdig, was der Aura der Figur maßgeblich zukommt. Trotz aller optischen Aufhänger fallen die schlichten Animationen selten negativ auf, da der rudimentäre Animationsstil auch sonst zu dem rauen Wellengang und der bodenständigen Serie passen.
Straffe Erzählweise
Besonders die zweite Hälfte der Geschichte birgt nicht nur viele Todesopfer, sondern verzichtet fast vollständig auf humorvolle Szenen. Die Insel erweist sich als (nicht-blutiger) Schauplatz eines Überlebenskampfes. Angenehm fällt dabei das Erzähltempo auf: Größere Zeitsprünge gibt es kaum und die Handlung wird fast am Stück weg erzählt. Dadurch vergehen die 26 Episoden wie im Fluge. Die Nähe zur Vorlage sorgt dafür, dass der Stoff intelligent auf alle Episoden verteilt wurde. Dadurch bleibt am Schluss die Möglichkeit, zu erzählen, was aus den einzelnen Charakteren nach der Reise zur Schatzinsel wurde. Langeweile kommt nicht auf, da Osamu Dezaki (Bionic Six) mittels regelmäßigen Cliffhangern dafür zu sorgen weiß, dass auch kein Zuschauer abhanden kommt. Die Charaktere bleiben glaubhaft und überzeugen stellenweise mit mehr Profil, als man ihnen auf den ersten Blick zuschreiben mag.
Ein Relikt meiner Kindheit! Anders als bei so vielen Serien, die man durch die verklärte Nostalgiebrille sieht, wie etwa Saber Rider & the Star Sheriffs, die heute kaum noch überzeugen können, punktet Die Schatzinsel mit ihrem durchdachten Skript. Ein angenehmes Erzähltempo und sympathischen Figuren, die nicht pausenlos animetypische Grenzen überschreiten müssen, sind dafür verantwortlich, dass die 26 Episoden wie im Fluge vergehen. Ich war überrascht, wie viele Wendungen die Serie doch mitbringt. Für eine Kinderserie fällt sie außerdem erstaunlich brutal aus, wenngleich entsprechende Darstellungen nicht auftauchen. Doch der Bodycount ist wirklich erstaunlich hoch. Wer über die angestaubte Optik hinwegsehen kann, wird mit einem zeitlosen Abenteuerklassiker belohnt. Nur die deutsche Stimme von Jim, Marek Harloff, klingt für meine Ohren sehr anstrengend, da Jim nahezu daueraufgekratzt ist.