Tropes erklärt: Wahlfamilie

Wenn es um die Familie geht, dann existieren dazu viele Weisheiten. Sei es, dass man sich Familie nicht aussuchen könne oder dass Familie viel mehr als Blutsverwandtschaft bedeute. Das Trope “Wahlfamilie” widerlegt das erste Statement und bestätigt dafür nun genau die zweite Annahme: Familie kann man sich aussuchen und man wird nicht zwangsläufig in eine hineingeboren, von der man sich nie lossagen kann. Es beschreibt also das Vorkommnis, wenn sich eine Gruppe Menschen bewusst dafür entscheidet, eine Familie zu sein, egal ob dieses Verhältnis weder durch Blutsverwandtschaft noch Adoption rechtlich von Beginn an zutreffend wäre. In unserem Format “Tropes erklärt” nehmen wir von Geek Germany die Klischees der Medienkultur genauer unter die Lupe, diesmal geht es um das Trope “Wahlfamilie”.

»Trope« ist der englische Begriff für »Tropus«, eine Bezeichnung, welche ursprünglich aus der Literatur kommt und eine bestimmte Klasse sprachlicher Stilmittel meint. Im modernen Verständnis wird das »Trope« mittlerweile als allgemeines Synonym für »Klischee« benutzt. Ein Trope bezeichnet demnach konventionelle Erzählungselemente, bei denen es sich um stereotype Motive, Storywendungen, Dialogabläufe oder Rollenbilder handeln kann. Die Liste dieser Tropes ist ellenlang und manchmal wird man sich erst nach Sichtung eines Trope-Lexikons bewusst, dass man just im Film XY auf ein solches gestoßen ist. Wir nehmen das zum Anlass, den Tropes auf den Grund zu gehen und allmonatlich eines vorzustellen.

Unter der Lupe

Wahlfamilie

Wenn sich verschiedene Figuren als Familie empfinden, obwohl sie nicht als solche geboren wurden: Das ist die Wahlfamilie. Oft ist es dabei so, dass die betreffenden Figuren kein existierendes Verhältnis zu ihrer Herkunftsfamilie haben: Sie sind entweder klassischerweise tot, abwesend oder haben die Figur gar aus dem familiären Kreis verstoßen. In Fantasy-Titeln hängt das oft mit verborgenen Kräften der Figur zusammen. Eventuell ist die leibliche Familie aber auch einfach nicht von Liebe und Fürsorge geprägt, wodurch sich die Figur selbst zur Abkehr entscheidet. Klassischerweise nicht in das Trope gezählt werden Fälle, bei denen die Familie zwar nicht aus den Blutsverwandten besteht, die Konstellation aber durch Adoption der Figur als Baby oder eine Wiederheirat eines Elternteils zustande gekommen ist. Denn hierbei wird die Familienkonstellation durch äußere Umstände bereits etabliert, bevor etwa das Kind die Menschen auch selbst als seine Familie ansieht. Entscheidend ist, dass sich die betreffenden Figuren bewusst dafür entscheiden, dass sie ihre Familie gefunden haben – die Betonung liegt also auf der “Wahl”. In manchen Fällen wird die Wahlfamilie dann durch eine Adoption auch zur rechtlichen Familie. In eher seltenen Fällen besitzen die Mitglieder noch ein gutes Verhältnis zu ihrer Herkunftsfamilie, sodass die Wahlfamilie zu einer zweiten Heimat wird. In Fantasy-Titeln ist Letzteres notwendig, weil sich der Protagonist etwa in einer anderen Welt fernab seiner ursprünglichen Familie befindet. Ebenfalls unter das Trope fallen Figuren, die gemeinsam als Kinder aufwachsen und sich selbst dazu entscheiden, sich als Geschwister zu sehen und zu bezeichnen. Eine Unterkategorie des Tropes ist die “Kriminelle Wahlfamilie”. Diese beschreibt zwar ebenfalls eine gewählte Familie, umfasst damit aber Figuren, die durch ihre Abneigung gegenüber Regeln der Gesellschaft oder Gesetze zusammengebracht werden.

Ice Age (Film-Reihe, 2002–2016)

Worum geht es?

Mitten in der letzten Eiszeit machen sich die Tiere auf den Weg Richtung Süden. Zumindest eigentlich, denn Faultier Sid wird einfach von seinen Verwandten zurückgelassen. Kurz darauf lernt er das mürrische Mammut Manfred “Manni” kennen. Zusammen finden sie ein wehrloses Menschenbaby, dessen Mutter kurz zuvor verstarb. Klar ist, dass das Kind zurück zu seiner Familie muss. Nach einigem Hin und Her entscheiden die beiden, die Familie des Menschenkindes zu finden, wobei sich ihnen der Säbelzahntiger Diego anschließt. Doch dieser verfolgt ein eigenes Ziel. 

Wie wird das Trope umgesetzt?

Der erste Teil etabliert mit Sid, Manni und Diego drei Charaktere, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten. Ein tollpatschiges Faultier, ein einzelgängerisches Mammut und ein gewiefter Säbelzahntiger, die sich gemeinsam temporär um ein Menschenbaby kümmern und es zu seiner Familie zurückbringen möchten. Die Wahlfamilie wird vor allem dadurch deutlich, dass Sid von seinen Verwandten zu Beginn des ersten Films einfach herzlos zurückgelassen wird und Diego letzten Endes sogar seine eigentliche Herde und Artgenossen angreift, als diese Sid, Manni und das Baby anfallen. Besonders hierbei ist, dass Diego seine Freunde ursprünglich in eine Falle locken wollte, doch während der gemeinsamen Reise kommen sich alle Beteiligten näher und sie wachsen zu einer Herde, also Familie, zusammen. Nicht unter das Trope fällt die im zweiten Film vorgestellte Mammut-Dame Ellie, da sie mit ihren Opossum-Brüdern von Anfang an aufgewachsen ist und sich sogar selbst lange Zeit für ein Opossum hält. In den späteren Filmen werden von den Figuren teilweise eigene Familien gegründet, doch das ändert nichts daran, dass alle zusammen eine Herde, also eine große Familie, sind.

© Disney

Lilo & Stitch (Serie, 2003–2005)

Worum geht es?

Die kleine Lilo lebt mit ihrer großen Schwester Nani auf Hawaii. Ihre Eltern sind verstorben, sodass Nani die Verantwortung für das kleine Mädchen inne hat. Zu ihrer Familie gehören nach einigen Turbulenzen auch Stitch, eigentlich das Experiment 626 des bösen Alien-Wissenschaftlers Jamba, der nun gemeinsam mit dem einäugigen Alien Pliiklii ebenfalls bei Lilo und Nani wohnt. Gemeinsam müssen sie wachsam sein, da die übrigen Experimente von Jamba zufällig auftauchen und einiges an Unruhe stiften. Deswegen versuchen sie, diese wieder einzufangen.

Wie wird das Trope umgesetzt?

“Ohana heißt Familie”, das ist ein Satz, der in der Serie sehr häufig fällt. Das Trope der Wahlfamilie wird in allen Punkten erfüllt, wobei manche Familienmitglieder wie eben Lilo und Nani auch blutsverwandt sind. Dabei könnte diese Familie nicht ausgefallener sein, schließlich besteht sie neben Lilo und ihrer großen Schwester auch noch aus mehreren Aliens. Nanis Freund David kann quasi ebenso zur Familie gezählt werden, auch wenn Nani oft versucht, ihn ein wenig auf Distanz zu halten, insbesondere Lilo zuliebe. Jamba und Pliiklii werden von Lilo als “Onkel” und “Tante” bezeichnet, wobei sich beide auch vor anderen Menschen als Onkel und Tante von Lilo vorstellen. Lilo behandelt Stitch je nach Situation mehr wie einen Hund (als was sie ihn in ihrem Umfeld auch ausgibt) oder eher wie einen Bruder. Letzteres wird vor allem bei kleinen Streitigkeiten der beiden deutlich, die stark an geschwisterliche Differenzen erinnern. Stitch nennt aber auch die anderen Experimente, denen sie begegnen, “Bruder” (oder “Schwester”, die meisten Experimente sind jedoch männlich), da sie alle von Jamba erschaffen wurden. Gemeinsam erleben sie alle viele Abenteuer und ihre Familie verteidigen sie stets. Aber nicht nur die Familie rund um Lilo und Stitch fällt unter das Trope, auch die übrigen Experimente formen manchmal familiäre Bindungen zu Menschen.

© Disney

Matilda (Film, 1996)

Worum geht es?

Die junge Matilda Wurmwald wird in eine Familie geboren, die sie weder wertschätzt noch fördert. Die Wurmwalds sind faule, ungebildete Klein-Ganoven und überlassen das kleine Mädchen schon früh sich selbst. Doch Matilda ist unglaublich intelligent und bildet sich mit Büchern fort. Lesen ist ihr liebstes Hobby und am liebsten würde sie zur Schule gehen. Ihr Vater verbietet ihr dies, doch nur, bis er von einer Frau namens Fräulein Knüppelkuh erfährt, die eine besonders strenge Schule leitet. Matilda wird auf diese Schule geschickt und muss feststellen, dass die Schulleiterin tatsächlich der Teufel in Person ist. Aber ihre Klassenlehrerin, Fräulein Honig, ist das komplette Gegenteil der Schulleiterin. Sie ist lieb, einfühlsam und möchte den Kindern Spaß am Lernen vermitteln. Schnell ist sie fasziniert von ihrer neuen Schülerin Matilda, die mit zarten sechs Jahren bereits Wälzer wie Mobby Dick gelesen hat. Bald entdeckt Matilda, dass sie besondere Fähigkeiten besitzt.

Wie wird das Trope umgesetzt?

Der Film ist ein Musterbeispiel für die Wahlfamilie, denn Matilda wird von ihrer leiblichen Familie offensichtlich schlecht behandelt und hat mit dieser rein gar nichts gemein. Die Wurmwalds werden auch nicht müde, zu betonen, wie anders Matilda doch ist. Deshalb versuchen sie auch, Matilda mehr zu einer von ihnen zu machen. Erst in Fräulein Florentine Honig findet das Mädchen eine Seelenverwandte, die tatsächlich trotz ihres freundlichen Auftretens ebenfalls sehr einsam ist. Denn ihre Eltern starben als sie noch ein Kind war und fortan musste sie unter der strengen Hand ihrer Tante (wobei es sich um keine Geringere als Fräulein Knüppelkuh handelt) aufwachsen. Diese hat sie auch aus dem schönen Anwesen der Familie vertrieben und sie um ihr Erbe gebracht. Ineinander finden Florentine und Matilda das Verständnis, das ihnen all die Jahre gefehlt hat. Am Ende des Filmes werden die beiden auch legal zu Mutter und Tochter, da Fräulein Honig Matilda auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin adoptiert. Dadurch entscheiden sich beide bewusst für ein Leben als Familie und distanzieren sich so endgültig von ihren Herkunftsfamilien.

© Sony Pictures

Willkommen im Haus der Eulen (Serie, 2020–?)

Worum geht es?

Die 14-jährige Luz Noceda stolpert versehentlich mittels eines Portals in eine fremde Welt. Eigentlich sollte sie zu einem Reality-Check-Camp gehen, für das ihre Mutter Camila sie angemeldet hatte, weil Luz mit ihrer großen Fantasie etwas spezieller ist. Die fremde Welt nennt sich “Die brodelnden Inseln” und dort existieren Hexen, Magie, Monster und ein böser Imperator. Luz freundet sich mit der als “Eulenlady” bekannten Eda Dornenklaue und ihrem dämonischen Mitbewohner King an, sodass sie fortan bei ihnen im Eulenhaus leben darf. Nicht nur das: Luz setzt es sich zum Ziel, eine mächtige Hexe zu werden, obwohl sie als Mensch keinerlei magische Kräfte besitzt. Um ihr Ziel zu erreichen, wird sie Edas Lehrling und möchte an der Hexstein, einer Schule für angehende Hexen, studieren.

Wie wird das Trope umgesetzt?

Luz ist im Gegensatz zu vielen anderen Kindern des Tropes nicht vollkommen entfremdet von ihrer Mutter. Im Gegenteil: Sie vermisst ihre Mutter schmerzlich und sucht verzweifelt einen Weg, mit einem Portal wieder nach Hause zu kommen. Aber es war nun einmal auch Camila, die Luz nicht verstehen konnte und ihr die Andersartigkeit austreiben wollte. Zudem wird das Haus der Eulen für Luz schnell zu einem zweiten Zuhause. Ihre Lehrmeisterin Eda betrachtet Luz ebenfalls als Teil ihrer Familie, sie wird sogar explizit als eines ihrer beiden Kinder bezeichnet. Eda zeigt sich gegenüber Luz von einer sehr fürsorglichen, mütterlichen Seite und als es finanziell knapp wird, investiert sie ihr ganzes Geld in gute Nahrung für Luz, die als Mensch viele Speisen der brodelnden Inseln nicht verträgt. Noch etwas deutlicher wird das Trope jedoch bei King, der schon lange bei Eda wohnt und eigentlich auf der Suche nach seiner Herkunft ist. Doch obwohl er seinem Vater näher kommt, entschließt er sich stattdessen, dass er offiziell von Eda adoptiert werden möchte. Damit wird er ihr Adoptivsohn.

© Disney

Ich habe 300 Jahre lang Schleim getötet und aus Versehen das höchste Level erreicht (Light Novel, 2016–?)

Worum geht es?

Die Japanerin Azusa stirbt an Überarbeitung. Doch das ist nicht das Ende ihrer Geschichte, sondern erst der Anfang: Sie wird in einer Fantasy-Welt als unsterbliche, junge Hexe wiedergeboren und entschließt sich, das Leben nun schön ruhig anzugehen. Sie tötet nur täglich ein paar Schleime, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch nach satten 300 Jahren haben sich diese schwachen Monster und die Erfahrungspunkte aufsummiert, sodass Azusa nun das höchste Level erreicht und die stärkste Hexe weit und breit ist. Das bringt ihr Leben fortan ordentlich durcheinander, doch sie ahnt noch nicht, dass ihr das eine liebevolle Familie und ein noch schöneres Leben bescheren wird.

Wie wird das Trope umgesetzt?

Familie ist quasi das Leitmotiv der gesamten Reihe. Dabei wird diese immer weiter vergrößert und Azusa zählt immer mehr Personen zu ihrer Familie. Da wären etwa die Schleimgeist-Zwillinge Falfa und Shalsha, die sie als ihre Mutter ansehen, da sie nur durch die vielen Seelen der getöteten Schleime erschaffen wurden. Azusa findet sich schnell in die Mutterrolle ein und betrachtet die beiden Mädchen vollwertig als ihre Kinder, doch daneben gibt es noch weitere Figuren, die zu ihr stoßen. Einige erfüllen die typischen Tropes der Wahlfamilie: Von der Familie verstoßen, Außenseiter oder ohne noch lebende Blutsverwandte. Manche haben aber noch ein liebevolles Verhältnis zu ihrer leiblichen Familie. Andere haben hingegen recht interessante Motive, so wird der blaue Drache Flatorte durch einen Vetrag an Azusa gebunden, womit das Trope quasi negiert wird. Auch Figuren, die nicht in Azusas Haushalt wohnen, werden von ihr als Familie gesehen: Etwa die Dämonin Beelzebub (die quasi als Falfa und Shalshas Tante fungiert) und der Naturgeist Yufufu. Letztere übernimmt die Mutterrolle für Azusa, was diese vor allem deshalb schätzt, weil sie in der Fantasy-Welt durch ihre direkte Wiedergeburt als junge Hexe keine leiblichen Eltern hat.

© Crunchyroll

Sollte nicht unerwähnt bleiben:

Harry Potter (Buch-Reihe, 1991–1998)

Harrys einzige noch lebende Blutsverwandten sind seine Tante Petunia und sein Cousin Dudley. Von diesen wird er schlecht behandelt, er muss unter der Treppe schlafen und erfährt keinerlei Liebe. Ganz anders ist das bei den Weasleys, der Großfamilie seines besten Freundes Ron. Insbesondere Molly Weasley nimmt den Jungen liebevoll bei sich auf und nimmt ihn quasi als Sohn an. Offiziell zu einer Familie werden sie am Ende durch die Heirat zwischen Harry und der einzigen Weasley-Tochter Ginny.

Geralt-Saga (Buch-Reihe, 1990–1999), (Game-Reihe, 2007–)

Hexer Geralt von Riva und seine Geliebte Yennefer betrachten sich als Eltern der jungen Ciri, diese sieht sich als deren Tochter. Bemerkenswert hierbei ist, dass Yennefer als Zauberin unfruchtbar ist und an diesem Zustand sehr leidet, weshalb Ciri als Ersatztochter umso mehr Bedeutung für sie hat. Geralt und Ciri haben ein enges Vater-Tochter-Verhältnis, weswegen die Suche nach Letzterer auch die Hauptquest des Games The Witcher 3: Wild Hunt darstellt.

Yakuza (Game-Reihe, 2005–)

Zwischen dem (Ex-)Yakuza Kazuma Kiryu und dem Waisenmädchen Haruka Sawamura entsteht ein liebevolles Vater-Tochter-Verhältnis, wobei Haruka ihn als “Onkel Kaz” anspricht. Offiziell sind sie nicht verwandt, allerdings fühlt sich Kazuma auch durch äußere Umstände für sie verantwortlich: Sie ist nämlich die Tochter seiner großen Jugendliebe Yumi.

Kill La Kill (Anime-Serie, 2013)

Ryuko Matoi findet in der Familie ihrer besten Freundin Mako, den Mankanshokus, die Familie, die sie so nie hatte. Sie wuchs alleine fernab ihres Vaters in Internaten auf, wobei dieser vor der Handlung getötet wird. Das liebevolle Verhältnis ihrer Wahlfamilie steht vor allem im Kontrast zu ihrer grausamen leiblichen Mutter, der sie erst spät begegnet und die sie bereits als Baby mit Experimenten gequält hat.

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