Tropes erklärt: Die Gesichtslosen

Ein Master Chief, der niemals seinen Helm abnimmt; eine Ms. Bellum, deren Gesicht stets von mindestens einer Zimmerpflanze verdeckt wird; ein Mandalorianer, der nur im Verborgenen seine Suppe löffelt, damit auch ja niemand seine hübschen Mandelaugen sieht – das alles sind Beispiele für gesichtslose Figuren. Doch warum sind sie gesichtslos? Hat das besondere Gründe? In unserem Format »Tropes erklärt« nehmen wir die Klischees der Medienkultur genauer unter die Lupe und beschäftigen uns dieses Mal mit »Die Gesichtslosen«.

»Trope« ist der englische Begriff für »Tropus«, eine Bezeichnung, welche ursprünglich aus der Literatur kommt und eine bestimmte Klasse sprachlicher Stilmittel meint. Im modernen Verständnis wird das »Trope« mittlerweile als allgemeines Synonym für »Klischee« benutzt. Ein Trope bezeichnet demnach konventionelle Erzählungselemente, bei denen es sich um stereotype Motive, Storywendungen, Dialogabläufe oder Rollenbilder handeln kann. Die Liste dieser Tropes ist ellenlang und manchmal wird man sich erst nach Sichtung eines Trope-Lexikons bewusst, dass man just im Film XY auf ein solches gestoßen ist. Wir nehmen das zum Anlass, den Tropes auf den Grund zu gehen und allmonatlich eines vorzustellen.

Unter der Lupe

Die Gesichtslosen

Die Gesichtslosigkeit bei Figuren ist ein Feature, welches ganz unterschiedliche Gründe haben kann. Manchmal findet man die Ursache in der fiktiven Geschichte selbst. In solchen Fällen entscheiden sich die Figuren für ihre Gesichtslosigkeit, weil sie ein bestimmtes Ziel innerhalb ihrer eigenen Geschichte verfolgen. Manchmal aber wird diese Entscheidung auf einer übergeordneten Ebene von den kreativen Köpfen dahinter getroffen, dann nämlich soll die Gesichtslosigkeit einen bestimmten Effekt auf das Publikum erzielen. Zum Beispiel kann Gesichtslosigkeit den Fokus der Zusehenden auf einen bestimmten Aspekt lenken, sie kann dabei helfen, zu verdeutlichen, wie die Figuren ihre Umwelt wahrnehmen, sie kann aber auch schlicht ein simpler Marketing-Trick sein, um dem Publikum das Geld aus den Taschen zu ziehen. Stellenweise ist die Gesichtslosigkeit auch ein Ausdruck von Pragmatismus, da die Animation von Gesichtern stets sehr aufwendig ist. Gesichtslosigkeit in Videospielen verfolgt zudem das Ziel, eine bessere Identifikation und damit auch Immersion seitens der Spielenden zu gewährleisten.

V wie Vendetta (Film, 2006)

Worum geht es?

V ist ein maskierter Kämpfer der Gerechten, der in einer dystopischen Zukunft die faschistische Regierung von Großbritannien terrorisiert. Sein Ziel ist zum Einen persönliche Rache, zum Anderen der gesellschaftliche und politische Umsturz. V wie Vendetta ist eine Verfilmung der gleichnamigen Graphic Novel von Alan Moore und David Lloyd aus dem Jahre 1982.

Wie wird das Trope umgesetzt?

Über V ist nicht viel bekannt. Man kann zwar grob seinen Werdegang und den Ursprung seiner Motivation rekonstruieren, doch der Mann als solches bleibt ein Mysterium. Über den gesamten Filmverlauf trägt V eine Guy Fawkes-Maske in Anlehnung an das (gescheiterte) Pulverfassattentat im November 1605. Die Stimme kennzeichnet ihn als Mann in seinen 40ern und die nackten Hände (wenn er denn mal seine Handschuhe ablegt) zeigen eine von Brandnarben entstellte Haut. Möglich also, dass die Maske nur ein Mittel zur Kaschierung seiner Entstellungen ist – möglich, aber zu simpel. Denn die Maske erzeugt etwas, das sehr essentiell für die Figur ist: Ambivalenz. Es gibt keinen Bereich, den V der Eindeutigkeit überlässt. Seine Herkunft: Ungewiss. Sein Aussehen: Nicht bekannt. Seine Motivation: Zunächst unklar. Selbst der Name »V« könnte durch so viele Dinge angeregt sein. Seine Gesichtslosigkeit bzw. die Maske erfüllt hier einen ideellen Zweck, da V als Kämpfer der Résistance ein unsterbliches Ideal vertritt, das weiter besteht, so lange es Menschen gibt, die seine Maske aufsetzen. Der Mensch hinter der Maske ist sterblich und damit unwichtig und ersetzbar. Vielmehr ist es die Idee, die lebt, verkörpert durch eben jene Maske. Das zeigt sich auch in Vs Selbstverständnis. Er betrachtet das Gesicht dahinter nicht als das seine; sein Gesicht IST die Maske. V ist eine Idee, kein Individuum – ein Umstand, der im Film aufgeweicht, in den Comics aber radikal durchgezogen wird.

© Warner Bros. Home Entertainment

Powerpuff Girls (Serie, 1998–2005)

Worum geht es?

Ein Professor hat keine Frau, aber einen Kinderwunsch. Aus diesem Grund erschafft er sich drei kleine Töchter, die aufgrund eines dummen Unfalls mit Superkräften gesegnet sind. Obwohl erst im Kindergartenalter, machen es sich die Mädchen zur Aufgabe, ihre Stadt Townsville vor Bösewichten zu beschützen. Die Stadt selbst ist leider mit einem infantilen Bürgermeister gestraft, umso kompetenter ist dafür seine Sekretärin Ms. Bellum, deren Gesicht man nie zu sehen bekommt.

Wie wird das Trope umgesetzt?

Ms. Bellum heißt mit vollem Namen Sara Bellum, angelehnt an »Cerebellum«, den Fachausdruck für »Kleinhirn«. Ein versteckter Hinweis darauf, dass sie im Büro des Bürgermeisters das eigentliche »Brain« ist. Ms. Bellums Erscheinung wird stets ab dem Hals abwärts eingefangen. Sie trägt ein rotes Kleid mit Wespentaille. Ihr Gesicht ragt manchmal aus dem Bild heraus, mal versteckt es sich hinter ihrem wallenden roten Haar, hinter Zimmerpflanzen oder einem Heißluftballon; kein Objekt, das zu ausgefallen wäre, um ihre Gesichtslosigkeit zu wahren. Vielleicht wurde das beibehalten, weil den Machern die kreative Challenge Freude bereitete, wie man ihr Gesicht Folge für Folge verbergen konnte. Vielleicht stellt Ms. Bellums Gesichtslosigkeit aber auch die Wahrnehmung des sehr kleinen Bürgermeisters dar, der seinen Kopf gar nicht so weit in den Nacken legen könnte, um sie zu sehen. Er hat nur Augen für Ms. Bellums Körper, obwohl er doch eigentlich ihrem »Brain« alles zu verdanken hat. Eine leise ironische Spitze seitens der Macher, die da auch gesagt haben sollen: »Wir zeigen ihr Gesicht nicht, um nicht unser bestes Feature zu verraten«. Wie auch immer: Ihr Gesicht wurde letzten Endes im 10th Anniversary Special enthüllt.

© Warner Bros. Television

Halo (Game-Serie, 2001–)

Worum geht es?

Das UNSC (United Nation Space Command) der Menschen führt Krieg gegen eine theokratische Allianz von Aliens. Die einzig effiziente Waffe sind die Spartan-II-Soldaten: modifizierte Supermenschen. Ganz vorne mit dabei: John-117 aka der Master Chief.

Wie wird das Trope umgesetzt?

Seitdem der Master Chief im Jahre 2001 das Licht der Welt erblickt hat, trägt er einen Helm. In der originalen Trilogie (Halo 1 bis Halo 3) zeigt er niemals sein Gesicht, spricht höchsten karge One-Liner und wird von Kameraden nur mit seinem Rang angesprochen. Obgleich der Chief über eine Stimme und eine grob gesteckte Persönlichkeit verfügt, versucht man durch die konsequente Gesichtslosigkeit jede weitere Charakterisierung der Figur zu vermeiden, damit der Chief eine Leerstelle bleibt, die von den Spielenden ausgefüllt werden kann. Identifikation und Immersion – zwei wichtige Faktoren im Bereich der Videospiele. Im Kontrast dazu wird der Chief in den Büchern des Expanded Universe wesentlich stärker charakterisiert, inklusive äußerlicher Beschreibung (leichenblass, da er ständig in der Rüstung steckt, mit blauen Augen und braunen Haaren). Das liegt in der Medienform begründet: Seelenlose Schablonen funktionieren in Büchern nicht so gut wie in Videospielen. Ab Halo 4 kehrt der Master Chief dem Leerstellen-Image allmählich den Rücken, da Studio 343 Industries vermehrt darauf aus ist, seine Persönlichkeit zu erkunden. Ein Ansatz, den man in der Serien-Adaption durch Paramount noch rigoroser verfolgt, da der Master Chief hier zu 80% ohne Helm herumläuft und eine emotionale Charakterentwicklung durchlebt.

© Xbox Game Studios

The Mandalorian (Serie, 2019–)

Worum geht es?

Jahre nach dem Untergang des Galaktischen Imperiums, verdingt sich der Mandalorianer als Kopfgeldjäger in den äußeren Kreisen der Galaxis. Er entstammt einer altehrwürdigen Rasse von Kriegern und pflegt frenetisch deren Traditionen, u. a. immer einen Helm zu tragen.

Wie wird das Trope umgesetzt?

Der Mandalorianer trägt seinen Helm nicht, weil er wie V eine politische und vom Individuum unabhängige Idee verkörpert, sondern … nun, doch, irgendwie schon, allerdings gestaltet sich dieser Umstand beim Mandalorianer als wesentlich weniger tiefschürfend und radikal, denn der Mandalorianer hat einen Namen (Din Djarin), eine Vergangenheit und man bekommt im späteren Verlauf sogar sein Gesicht zu sehen. Djarin verbirgt sein Gesicht, weil er an den Kodex seines mandalorianischen Clans gebunden ist, der es jedem Mitglied untersagt, vor anderen den Helm abzunehmen. Diese Regel schließt (zunächst) auch das Publikum vor dem Bildschirm mit ein, denn in Momenten, in denen er seinen Helm zum Essen abnimmt, schwenkt die Kamera diskret zur Seite. Dennoch zieht die Serie ihr Dogma nicht knallhart durch; pünktlich zum Ende einer Staffel geschieht dieser eine geschichtsträchtige Moment, in denen Djarin für das große Ganze von seinem Pfad abweicht und den Helm abnimmt – und dem Publikum tränen die Klüsen.

© Disney

Golden Age-Cartoons (90er)

Benedict Uno aus Deckname: Kids Next Door, Dr. Claw aus Inspector Gadget und jeder Erwachsene in Tom und Jerry oder Die Peanuts: Sie alle haben keine Gesichter. Manchmal liegt das im schlichten Pragmatismus begründet, da die Animation von Gesichtern (gerade bei Nebencharakteren) aufwendig ist. In Dialogen etwa müssen die Lippen-Frames an die gesprochenen Worte angepasst werden. Durch Gesichtslosigkeit ist den Drehbuchautoren die Möglichkeit gegeben, noch auf den letzten Metern etwas am Dialog ändern zu können, ohne gleich die Gesichter neu animieren zu müssen. Daneben lenkt die Gesichtslosigkeit den Fokus des Publikums auf die Protagonisten und auf das, was wirklich wichtig ist. In Kids-Cartoons regieren Kinder die Welt, was braucht es da Erwachsene geschweige denn Erwachsene mit Gesichtern? Zeitgleich zeigt die Gesichtslosigkeit, wie Kinder bzw. Tiere (Tom und Jerry) die Erwachsenen wahrnehmen. Von ihrer Warte aus sind diese häufig nur eine Stimme von oben; eine nicht greifbare Macht.

In anderen Fällen werden Gesichter zu Marketing-Zwecken unter Verschluss gehalten, also des schnöden Mammons wegen. Die Mysteriösität wird hier über viele Episoden hin kultiviert, um die Fans später in einen Special Release hineinzunötigen, wenn sie denn wissen wollen, wie die Figur in Wahrheit ausschaut (so geschehen bei Die Prouds oder Ed, Edd und Eddy). Ganz gewieft waren die Spielzeughersteller ihrerzeit mit der Figur des Dr. Claw aus Inspector Gadget, der trotz Gesichtslosigkeit als Actionfigur zum Verkauf angeboten wurde. Die Hersteller pappten (von innen) einen fetten Sticker auf die Verpackung, so dass jeder, der wissen wollte, wie Dr. Claw aussieht, Geld ausgeben musste.

© Metro Goldwyn Mayer

Sollte nicht unerwähnt bleiben:

Dead Space (Game, 2008)

Ein weiteres Beispiel aus der Horror-Game-Ecke, welches durch den gesichtslosen (und in diesem Fall auch stummen) Protagonisten die Immersion fördern soll.

A Silent Voice (Anime-Film, 2016)

Die Mitschüler von Protagonist Shouya tragen allesamt ein X auf ihren Gesichtern. Das zeigt, wie Shouya die Welt perzipiert.

How I Met Your Mother (Serie, 2005–2014)

Die titelgebende Mutter bleibt viele Staffeln lang gesichts- und körperlos. Ihre Existenz wird lediglich durch kleine Details wie einen gelben Regenschirm angedeutet.

Die Simpsons (1989–)

Gott ist der ganz große Käse im Simpsons-Universum. Wenn er dargestellt wird, dann liegt sein Gesicht immer jenseits des Bildausschnitts. Vielleicht, weil er so groß ist. Vielleicht, weil jedes Abbild von ihm Ketzerei wäre … aber darum haben sich die Macher der Simpsons ja eigentlich noch nie geschert.

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