Winterjagd

Die Verarbeitung des Dritten Reichs und seiner Folgen ist in der deutschen Film- und Fernsehlandschaft ein beliebtes wie auch immens wichtiges Thema. Ob nun in Form von Klassikern wie Die Brücke, aufwühlende Dramen wie Nackt unter Wölfen oder Portraits bedeutender Persönlichkeiten dieser düsteren Zeit wie Stauffenberg. Man könnte daher dem Irrglauben verfallen, der deutsche Film hätte dieses Feld bereits vollumfänglich bestellt. Dass dies jedoch nicht der Fall ist, beweist Astrid Schult (Der innere Krieg) mit ihrem Spielfilmdebüt Winterjagd, in welchem sie sich der Thematik der NS-Prozesse der letzten Jahre gegen Personen, welche scheinbar nur kleine Rädchen im Getriebe der NS-Maschinerie waren, widmet.

    

Bereits der Einstieg ist verstörend. Der Zuschauer wird mitten in Lenas Vorbereitungen hineingeworfen, ohne dass zunächst klar ist, was sie plant. Einen Überfall? Einen Mord? Gar einen Amoklauf? So wird der Zuschauer Zeuge von Zielschießübungen im Wald und einem fingierten Autounfall, mit dem sich Lena erfolgreich Zutritt zur Villa der Familie Rossberg verschafft. Dort lebt der 90-jährige ehemalige Auschwitz-Wachmann Anselm Rossberg zusammen mit seiner Tochter Maria. Vor kurzem wurde Rossberg in einem aufsehenerregenden NS-Prozess freigesprochen, erhält jedoch nach wie vor Drohanrufe und –Briefe. Und genau dies ist auch der Anlass für Lenas “Besuch”. Ihre Großmutter, einst Lagerinsassin unter Rossberg in Auschwitz, hat ihn im Zuge der Fernsehberichterstattung anlässlich des Prozesses vermeintlich erkannt. Nun will Lena Rossberg mit vorgehaltener Waffe zu einem Geständnis zwingen. Doch ist er tatsächlich das Monster, für das ihn Lena hält? Oder war er damals lediglich ein unbedeutender Mitläufer, der versucht hat, sich aus allem herauszuhalten, wie er selbst beteuert? Und rechtfertigt dies alles, dass Lena den alten Mann und seine Tochter mit der Waffe bedroht?

Warum eigentlich Winterjagd?

Es entspinnt sich zwischen Lena und Rossberg ein intensives Psychoduell, bei dem der Zuschauer lange im Dunkeln darüber gelassen wird, ob Lenas Vorwürfe gegen Rossberg zutreffen oder nicht. Dabei entwickelt sich der Film, nachdem das Geschehen in das Anwesen der Rossbergs verlagert wird, zu einem packenden Kammerspiel. Alles fokussiert sich auf den Konflikt der beiden ungleichen Kontrahenten und deren Ringen um die Wahrheit, wobei die Ereignisse im KZ nur peu à peu enthüllt werden. So bleibt für den Zuschauer lange undurchschaubar, ob sich nun Lena oder Rossberg im Recht befindet. Eine zentrale Rolle bei diesem mentalen, aber auch physischen, Ringen spielt das titelstiftende Gemälde mit dem Titel “Winterjagd”, welches in Rossbergs Arbeitszimmer hängt. Darauf zu sehen ist ein einsamer Jäger, der durch eine tief verschneite Winterlandschaft stapft. Die Interpretation des Bildes wirft Fragen auf. So ist sich Rossberg nicht sicher, ob das Bild nun einen Jäger zeigt, der seine Beute hetzt oder ob der einsame Schneewanderer selbst der Gejagte ist. Gehetzt von einem unsichtbaren Jäger. Mit dieser Deutung ist das Bild jedoch auch eine Metapher für den Konflikt zwischen Lena und Rossberg. Auf den ersten Blick scheint klar zu sein, dass die mit der Waffe ins Haus eindringende Lena die Jägerin ist, die den NS-Verbrecher zur Strecke bringen will. Aber dann wird sie nicht nur von Rossbergs Tochter Maria entwaffnet und in der Folge gefesselt.  Vielmehr erscheint es nun nicht mehr völlig undenkbar, dass sich Rossberg tatsächlich im Recht befinden könnte. Hat er sich damals wirklich nur in seiner Baracke verkrochen und auf das Ende des Krieges gewartet. Ist also die von Rachegelüsten erfüllte Lena der Jäger auf dem Bild, die nicht existente Beute des fiktiven NS-Kriegsverbrechers vor Augen, getrieben von ihrem Hass und ihrer Wut? Oder ist es Rossberg, der von seiner Vergangenheit getrieben und zunehmend von seiner Tochter und der restlichen Welt isoliert wird?

Generationen im Konflikt

Originaltitel Winterjagd
Jahr 2017
Land Deutschland
Genre Thriller, Drama
Regisseur Astrid Schult
Cast Lena: Carolyn Genzkow
Anselm Rossberg: Michael Degen
Maria Rossenberg: Elisabeth Degen
Elena: Annette Mayer
Laufzeit 78 Minuten
FSK

Für die Regisseurin Astrid Schult ist Winterjagd ihr erster Spielfilm überhaupt. Bisher ist Schult lediglich aus Dokumentarfilmerin in Erscheinung getreten. Umso beachtlicher, dass sie sich als Filmdebüt einen so schweren Stoff ausgewählt hat. Jedoch kommt ihr hierbei auch ihre Erfahrung als Dokumentarfilmerin zu gute. Außerdem ist der Film hervorragend besetzt. Auf der einen Seite wurde mit Carolyn Genzkow (Der Nachtmahr) eine interessante Nachwuchsschauspielerin für die Rolle der Lena an Bord geholt. Genzkow gelingt eine glaubhafte Darstellung einer zwischen Selbstzweifeln, Hass und Heimatlosigkeit gefangenen jungen Frau, welche sich nicht nur auf der Suche nach dem Peiniger ihrer Großmutter, sondern auch auf der Suche nach sich selbst befindet. Die Unsicherheit, als sie endlich dem Objekt ihres Hasses gegenübertritt, ist dabei auf schmerzhafte Art und Weise greifbar.
Michael Degen (Hannah Arendt) als Rossberg ist schon deshalb eine spannende Besetzung, weil Degen selbst jüdischer Abstammung ist und in seiner Kindheit in NS-Deutschland nur mit Glück nicht den Nationalsozialisten zum Opfer gefallen ist. Daher hat seine Verkörperung des ehemaligen Auschwitz-Wachmanns Rossberg eine ganz besondere Note. Degen gesteht selbst ein, dass dies für ihn eine seiner schwierigsten Rollen war. Seine Figur siedelt er zwischen einem gutmütigen, rationalen Großvater und einem eiskalten Monster an. Als Zuschauer ist man gewillt ihm beides abzukaufen, was beim Publikum zu der Ungewissheit bezüglich der Person Anselm Rossberg beiträgt.
Daneben spielt Elisabeth Degen (Aimée & Jaguar) – Michael Degens Tochter – Rossbergs Tochter Maria. Mit Maria bringt der Film eine dritte Generation ins Spiel, so dass auch eine Art Rekapitulation der Bewältigung der NS-Geschichte in Deutschland in diesen drei Figuren wiederzufinden ist. Rossberg als Vertreter der Tätergeneration, Maria als Vertreterin der Nachkriegsgeneration, die sich fortwährend fragen muss, welche Rolle die eigenen Eltern wirklich im Dritten Reich eingenommen haben, und Lena als Sinnbild für die Enkelgeneration, welche zwar zeitlich hinreichend von den Ereignissen der NS-Zeit entfernt zu sein schein, sich jedoch dennoch nicht davon lösen kann.

Spannend aber nicht reißerisch

Indem der Zuschauer so unvermittelt ins Geschehen geworfen wird, ist von Anfang an eine gewisse Grundspannung vorhanden, welche bis zum bitteren Ende des Films gehalten wird. Mit der Konfrontation zwischen Lena und Rossberg dreht der Schult zusätzlich an der Spannungsschraube, wozu nicht zuletzt die wechselnden Machtpositionen beitragen. Bei alldem vermeidet es der Film jedoch ins Reißerische abzudriften, so dass man als Zuschauer nicht vom Mitdenken abgehalten wird. Und das ist auch gut so, denn der Film birgt interessante, und zugleich gesellschaftspolitisch brisante, moralische Fragen. So fällt es zunächst als Zuschauer nicht schwer, sich in Lena hineinzuversetzen, als man erfährt, weshalb sie Rossberg mit der Waffe bedroht. Jedoch gerät man zunehmend ins Wanken, je stärker Rossberg Lenas Position mit seinen ruhigen und rational klingenden Vorträgen untergräbt. Namentlich als er ihr die Waffe abnimmt und nun – scheinbar – den Spieß nicht umdreht, sondern zivilisiert und ruhig mit ihr redet. Was, wie sich später herausstellt, jedoch in erster Linie der Anwesenheit seiner Tochter geschuldet ist.  So wird der Zuschauer gezwungen zu hinterfragen, ob Selbstjustiz, auch wenn der Rechtstaat (scheinbar) versagt hat, ein legitimes Mittel sein kann. Umso erdrückender wird diese Frage, nachdem am Ende von Lenas Rache der Tod der unschuldigen Maria steht, welchen sich Lena genauso wie Rossberg auf die Fahnen schreiben lassen muss. Wäre sie einfach zur Polizei gegangen, hätte sie Rossberg wohl auch zur Strecke bringen können, ohne dass Unbeteiligte zu Schaden gekommen wären.

Besonders spannend ist bei alldem, dass der Film auch einen kurzen Blick aus der Perspektive eines Beschuldigten eines NS-Prozess gewährt. So kann man erahnen, dass ein solcher Prozess für den Betroffenen und seine Familie eine ziemliche Tortur sein muss, unabhängig davon inwieweit sich selbiger dies durch seine Taten im Dritten Reich verdient hat. Allerdings geht der Film an dieser Stelle leider nicht sonderlich in die Tiefe, was jedoch aufgrund der auf Lena ausgerichteten Erzählperspektive folgerichtig ist. Eine eingehendere Behandlung dieses Themas ist wohl besser in einem eigenständigen Film aufgehoben.

Mit Winterjagd ist dem ZDF eine schöne kleine TV-Perle gelungen, die völlig zurecht als heißer Anwärter auf diverse deutsche Fernsehpreise gehandelt wird. Zwar kann man sich schnell denken, welche Rolle Rossberg tatsächlich im Dritten Reich eingenommen hat. Dass ein deutscher Fernsehfilm aus den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten am Ende einem beschuldigten NS-Verbrecher die Absolution erteilt, erscheint wenig wahrscheinlich und wäre auch gesellschaftspolitisch mehr als heikel. Daher kann man dem Film nicht vorwerfen, dass er nicht mutig genug sei. Zumal er, durch den Tod Marias, an dem auch Lena einen Teil der Schuld trägt, am Ende nicht klar in Gut und Böse unterteilt.  Somit bleibt am Ende ein spannender und nachdenklicher TV-Psychothriller, der, nicht zuletzt aufgrund der großartig agierenden Darsteller, aus der Masse der Fernsehproduktionen herausragt.

Atticus

Atticus ist Jura-Student. Er verbringt seine Freizeit am liebsten zusammen mit Freunden oder draußen in der Natur. Darüber hinaus ist Atticus ein großer Filmfan, jedoch nicht allzu wählerisch, so dass es kaum ein Genre gibt, dem er nicht zugeneigt wäre. Auch macht es ihm nichts aus, wenn ein Film ein paar Jährchen auf dem Buckel hat. Außerdem liest Atticus gerne Romane. Wenn möglich Krimis, Thriller, Horror- oder Abenteuerliteratur. Aber zwischendurch darf es auch gerne einmal etwas ausgefalleneres sein.

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Ayres
Redakteur
15. Dezember 2017 17:04

Als ich die Beschreibung las, dachte ich mir erst: Urgh, klingt nach typischem ZDF-Film. Doch je mehr ich von deinem Artikel las, desto interessanter wurde die Sache. Danke für die Vorstellung, ist auf meine Watchliste gewandert 🙂