Cinderella Phenomenon

Neuerzählungen bekannter Märchen erfreuen sich großer Beliebtheit. So lief beispielsweise im März 2017 die Neuverfilmung von Die Schöne und das Biest in den Kinos an. Mit Märchen verbinden die meisten die altbekannten Geschichten aus ihrer Kindheit, die immer glücklich enden. In Cinderella Phenomenon bekommen Spieler eine düstere Komponente, da die Geschichten die Basis für Flüche bilden. Jene Geschichten werden hier also nicht unter einem anderen Blickwinkel neu erzählt, sondern stellen in Form eines Fluches das Leben des einen oder anderen vollkommen auf den Kopf.

  

Lucette ist die Kronprinzessin von Angielle und alles andere als beliebt. Hinter ihrem Rücken wird sie als Eisprinzessin bezeichnet und Freunde hat sie auch keine. Das ist kein Wunder, denn Lucette lässt jeden in ihrem Umfeld spüren, dass sie etwas Besseres ist. Jeder Versuch ihrer Stiefgeschwister, sich mit ihr anzufreunden, wird abgeschmettert, jeder Fehltritt der Diener hart bestraft. Selbst ihren eigenen Vater, König Genaro, lässt Lucette nur Abweisung und Kälte spüren, da er in ihren Augen seine Stiefkinder mehr liebt als sie. Doch von einem Tag auf den anderen verliert Lucette alles. Niemand kann sich mehr an sie erinnern und sie irrt als Niemand auf den Straßen der Stadt umher. Die Erklärung lässt nicht lange auf sich warten: Die Hexe Delora hat Lucette mit dem Fluch ‘Cinderella’ belegt. Dieser kehrt das bekannte Märchen um. Anstatt über Nacht ihr Glück zu finden, wird Lucette von Kronprinzessin zum Nichts. Denn niemand erkennt sie mehr, nicht einmal ihre Familie. Es ist, als hätte sie nie existiert. Für Lucette gibt es nur einen Ausweg: Sie muss drei gute Taten vollbringen. Doch das ist gar nicht so leicht, wie es klingt…

Fünf mögliche Routen, fünf individuelle Geschichten

Originaltitel Cinderella Phenomenon
Jahr 2017
Genre Visual Novel
Plattform PC
Entwickler Dicesuki
Publisher Dicesuki
Spieler 1

Sind die ersten vier Kapitel gelesen, steht Lucette vor der Wahl, mit wessen Hilfe sie ihren Fluch bricht bzw. wen sie darin unterstützt, seinen eigenen Fluch zu brechen. Denn alle möglichen Kandidaten sind selbst verflucht und jeder von ihnen bringt andere Hürden mit sich. Zu Beginn beschränkt sich die Auswahl auf Karma, Rumpel und Rod. Später kommen Waltz und Fritz dazu. Alle fünf sind so unterschiedlich wie ihre Flüche und die damit verbundenen Aufgaben. Sein Päckchen hat dabei jeder der Charaktere zu tragen. Ihre Flüche schränken sie ein und spiegeln ein Stück weit auch wider, welche Fehltritte und Fehler sie ihnen eingetragen haben. So ergibt sich in jeder Route eine vollkommen neue Geschichte. Die Erzählungen stehen zwar für sich, beinhalten aber auch einige Querverbindungen zu den anderen Routen. Denn die anderen Herren, deren Route nicht gewählt wurde, fallen nicht unter den Tisch und Lucette erfährt die wichtigen Details auch, wenn sie sich bereits für einen anderen entschieden hat. In gewisser Weise ergänzen sich die Routen gegenseitig, sodass man mit jeder weiteren, die man abschließt, Puzzleteile für die gesamte Geschichte erhält. Daher schlagen die Entwickler auch eine Reihenfolge vor, in der sie gelesen werden sollten: Rod, Karma, Rumpel, Fritz, Waltz. Von dieser Empfehlung abzuweichen, fällt bei den ersten drei Routen noch nicht ins Gewicht. Es empfiehlt sich aber, Waltz an den Schluss zu setzen, da hier das spektakulärste Finale geboten wird.

Die Eisprinzessin

Doch auch Lucette selbst hat eine tragische Vorgeschichte. In Form von Träumen wird nach und nach klar, dass es hauptsächlich dem Einfluss ihrer kühlen Mutter zu verdanken ist, dass sie niemanden traut und sich nur auf sich selbst verlässt. Sie hatte eine einsame Kindheit. Ihre Mutter erzog sie dazu, allen zu misstrauen und verbat ihr sogar den Umgang mit anderen Kindern. Selbst ihren Vater hielt sie von der kleinen Lucette fern, sodass ihre Mutter letztendlich zu ihrer einzigen Bezugsperson wurde. Da ist es kein Wunder, wenn Lucette es zunächst nicht glauben kann, dass es ihre Mutter war, die den Märchenfluch schuf, Genaro zwang, sie zu heiraten, und einer Tyrannin gleich über Angielle herrschte. Lucettes Aussprache mit ihrem Vater ist eine der emotionalsten und berührendsten Szenen dieser Visual Novel.

Viel Story für wenig Geld

Cinderella Phenomenon bietet insgesamt zehn Enden und mehrere Stunden Spielzeit zu einem unschlagbaren Preis von 0 Euro. Wer die Entwickler dennoch unterstützen will, kann das in Form eines digitalen Artbooks tun. Für fünf Euro bekommt man damit nicht nur sämtliche Szenenbilder und Hintergründe, sondern auch Skizzen sowie einige Zusatzinformationen zu Charakteren und Story. Hier erfährt man auch, dass ursprünglich noch zwei Routen mehr geplant waren. Doch auch ohne diese beiden zusätzlichen Routen (auf die wegen des zusätzlichen Aufwands verzichtet wurde) bekommt der Leser eine umfangreiche Visual Novel geboten, die sich nicht vor Titeln verstecken muss, für die er Geld bezahlt müsste. Sie hebt sich also durchaus von anderen kostenlosen Angeboten ab. Auch die musikalische Untermalung ist gelungen. Zwar kennt man nach einigen Stunden alle Tracks, aber sie unterstreichen die Atmosphäre passend. Das gilt auch für die Hintergründe, nahezu jeden gibt es in zwei Varianten je für Tag und Nacht. Außerdem werden nicht nur die benannten Hauptfiguren mit passenden Bildern bestückt, auch die namenlosen Statisten wie Passanten, Dienstmädchen oder Palastwachen bekommen ihre eigenen Sprites spendiert, was nicht unbedingt in jeder Visual Novel passiert. All diese Details zeigen, wie viel Zeit und Mühe die Entwickler in ihr Werk gesteckt haben.

Ich stieß zufällig beim Stöbern auf Steam auf dieses Meisterwerk. In dieser Visual Novel passt einfach alles: Die Charaktere mit ihren individuellen Geschichten und Beweggründen, die Geschichte, die so manche überraschende Wendung zu bieten hat, und die innovative Idee rund um die Märchenflüche. Die bekannten Märchen werden hier auf kreative Weise eingebaut. Gerade Lucettes Entwicklung ist unglaublich. Zu Beginn war sie mir mit ihrer herablassenden Art unsympathisch, aber zum Ende hin fieberte ich mit ihr mit. Eine Szene rührte mich sogar zu Tränen, was bei mir sehr selten passiert. All das macht Cinderella Phenomenon zu einer der besten Visual Novels, die ich bisher gelesen habe.

Drottning Katt

Als Studentin der Linguistik hat Drottning Katt ein Faible für Sprachen aller Art – reale oder fiktive. Sie ist ein großer Fantasy-Fan und kann in diesem Bereich immer mit detaillierten Worldbuilding, einem durchdachten Magiesystem oder vielschichtigen Charas geködert werden. Dabei ist es nebensächlich, in welcher Form die Geschichte erzählt wird, Hauptsache interessant. Zudem gehören zu ihren Hobbies das Schreiben eigener Geschichten, zeichnen und an eigenen fiktiven Sprachen basteln.

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